Grete Beier – Ermordung ihres Bräutigams (1908)

Grete Beier, Tochter des Bürgermeisters Beier zu Brand, wegen Ermordung ihres Bräutigams vor dem Schwurgericht zu Freiberg in Sachsen. Wer länger als ein Menschenalter fast täglich genötigt ist, sich in beruflicher Eigenschaft in den Gerichtssälen zu bewegen und auch die Stätten zu betreten, auf denen der Scharfrichter seines grauenvollen Amtes waltet, der wird naturgemäß etwas abgestumpft. Allein wenn eine junge Dame, die zu den gebildeten Kreisen gehört, eine Dame der Gesellschaft, die jugendliche Tochter eines Bürgermeisters auf die Anklagebank geführt wird, unter der Beschuldigung, ein Verbrechen begangen zu haben, wie es entsetzlicher nicht gedacht werden kann, dann ergreift auch den abgestumpftesten und gleichgültigsten Gerichtsberichterstatter ein heftiges Schaudern.

Der Fall »Grete Beier« wirft auf die Sittenzustände im Anfange des zwanzigsten Jahrhunderts ein um so traurigeres Schlaglicht, da nicht nur das Töchterlein eines Bürgermeisters, sondern auch der Bürgermeister selbst, der durch das Vertrauen seiner Mitbürger zum Oberhaupt der Stadt berufen worden war, der eidlich gelobt hatte, das Wohl der Stadt zu fördern und für die öffentliche Sicherheit Sorge zu tragen, sich nebst seiner Gattin der ärgsten Verbrechen schuldig gemacht hatte. Eine Bürgermeistersfamilie im Herzen Deutschlands, eine Verbrecherfamilie, fürwahr ein Kulturbild, das Abscheu und Entsetzen erregen muß.

An einem Knotenpunkt der sächsischen Staatsbahn, in der Nähe der sächsischen Kreisstadt Freiberg, liegt die kleine Bergstadt Brand. Der Bürgermeister dieses Städtchens erfreute sich allgemeiner Beliebtheit. Er hatte viel für die Stadt getan. Unter seiner Amtsführung wurde eine Anzahl Einrichtungen geschaffen, die für die gesundheitlichen und Sauberkeitsverhältnisse ungemein fördersam waren. Die wirtschaftlichen Verhältnisse nahmen während der Amtsführung Beiers einen großen Aufschwung.

Allein eines Tages verbreitete sich das Gerücht: Der Bürgermeister und Chef der Polizei stehe mit mehreren Frauen in ehebrecherischem Verkehr. Der Bürgermeister konnte diese Beschuldigung nicht auf sich sitzen lassen. Er stellte gegen die Verbreiterin dieses Gerüchts Strafantrag wegen Beleidigung. Da er in der Verhandlung vor dem Schöffengericht die Beschuldigung unter seinem Eide in Abrede stellte, so wurde die Angeklagte verurteilt. In der Berufungsverhandlung äußerte der Staatsanwalt: Er habe auf Grund von Erhebungen die Überzeugung gewonnen, daß Bürgermeister Beier in der ersten Instanz einen Meineid geschworen habe, er beantrage daher die Freisprechung der Angeklagten.

Der Gerichtshof erkannte dementsprechend und schloß sich in der Urteilsbegründung der Auffassung das Staatsanwalts an. Bürgermeister Beier war eine Woche vor der Berufungsverhandlung gestorben. Er wäre andernfalls verhaftet und die Anklage wegen wissentlichen Meineids gegen ihn erhoben worden. Beier hinterließ ein Vermögen von 60.000 Mark. Es entstand sogleich der Verdacht, Beier habe den früheren Armenhausverwalter Kröner, einen entfernten alten Verwandten, der seine letzten Lebensjahre bei ihm zugebracht hatte, arg bestohlen, zumal bekannt war, daß die Vermögensverhältnisse des Bürgermeisters nicht günstig waren.

Es tauchte auch der Verdacht auf, Beier habe zugunsten seiner Tochter eine Testamentsfälschung begangen. Frau Bürgermeister Beier wurde im Februar 1908 wegen versuchter Verleitung zum Meineid zu zwei Jahren. Zuchthaus verurteilt. Die Bürgermeisterstochter Grete Beier war eine auffallende Schönheit. »Bürgermeisters« zählten, naturgemäß zu den Honoratioren der Stadt. Es war daher erklärlich, daß das liebreizende Mädchen zahlreiche Anbeter hatte.

Daß bei allen Festlichkeiten der Bürgermeisterstochter von den Söhnen der besseren Bürgerschaft der Hof gemacht wurde, war selbstverständlich. Die träumerischen Augen des entzückend schönen, dunkelblonden, mittelgroßen, körperlich sehr entwickelten Mädchens ließen es nicht ahnen, daß diese junge Dame eine geradezu grausame Verbrecherin werden könnte, die ihr jugendliches Leben auf dem Schafott beenden werde.

Sie hatte in sehr jungten Jahren intimen Verkehr mit ihren zahlreichen Verehrern unterhalten. Eine ganz besondere Zuneigung schien sie zu dem Handlungsgehilfen Hans Merker gehabt zu haben. Um die Folgen dieses Verkehrs zu beseitigen, hatte sie sich wiederholt gegen die Bestimmungen des § 218 des StGB. vergangen.

Inzwischen hatte sie in Chemnitz einen hübschen, äußerst stattlichen Mann von vierunddreißig Jahren, den Oberingenieur Kurt Preßler, kennengelernt. Preßler war verheiratet, lebte aber von seiner Frau getrennt. Er betrieb die Scheidungsklage. Die schöne Bürgermeisterstochter, die er in Chemnitz auf einer Festlichkeit kennengelernt, hatte es ihm angetan. Er näherte sich ihr und erklärte: Er sei bereit, sich mit ihr zu verloben. Sobald er von seiner Frau geschieden sein werde – das dürfte in wenigen Monaten bestimmt der Fall sein – werde er sie heiraten.

Grete Beier erklärte sich damit einverstanden, zumal sie in Erfahrung gebracht hatte, daß Preßler ein großes Vermögen besitze. Die Liebe zu Preßler schien aber nicht groß gewesen zu sein, denn während ihrer Verlobungszeit stand sie mit Merker fortgesetzt in intimstem Verkehr. Sie brachte viele Nächte bei ihm zu. Gleichzeitig versicherte sie ihrem Bräutigam Preßler, daß er allein ihr Herz besitze.

Am 13. Mai 1907 kam Grete Beier zu ihrem Bräutigam Preßler, der in Chemnitz bereits eine Wohnung gemietet hatte, um seine angebetete Braut heimführen zu können, aufs Zimmer. Preßler lag gerade auf der Chaiselongue und war in heiterster Laune. Er freute sich, als er das anmutige Mädchen sah. Grete trat an die Chaiselongue und bedeckte den Mund Preßlers mit einer Flut heißester Küsse. »Nur dich allein liebe ich, nur dir allein will ich angehören«, beteuerte die schöne Grete.

Preßler zog »Gretchen« zu sich hinüber. »Wie gern küsse ich dies Rosenmündchen,« seufzte er. Grete Beier: »Damit du, heißgeliebter Kurt, auch siehst, daß ich dir von ganzem Herzen zugetan bin, habe ich dir etwas Schönes vom Jahrmarkt mitgebracht. Erst wollen wir aber Kaffee trinken.« Nach dem Kaffee lud Preßler »sein herziges Gretchen« ein, mit ihm ein Gläschen Eierkognak zu trinken. »Gretchen« lehnte ab. »Dann gieße mir wenigstens ein Gläschen ein, es wird mir um so besser schmecken,« sagte Preßler. Das will ich gern tun, versetzte »Gretchen« mit süßem Lächeln. »Gretchen« goß den Eierkognak in ein Gläschen und ließ unbemerkt ein Stückchen Zyankali in das Glas gleiten.

Preßler sagte: »Auf dein Wohl, mein herziges, heißgeliebtes Kind,« und leerte das Glas mit einem Zuge. In demselben Augenblick sank Preßler um, er gab keinen Laut mehr von sich. Grete Beier wollte aber »ganze« Arbeit machen. Sie zog daher eiligst einen geladenen Revolver aus ihrem Busen. Der Augenblick war günstig.

Preßler lag, heftig röchelnd, mit geöffnetem Munde auf der Chaiselongue. Das dämonische Weib steckte ihrem Opfer den Revolver in den Mund und drückte ab. Das Gehirn spritzte weit im Zimmer umher, ein heftiger Blutstrom ergoß sich aus dem zerschmetterten Kopfe Preßlers. Die verruchte Mörderin war reichlich mit Blut besudelt. Sie vermied es aber, sich vom Blut zu reinigen. Eiligst verließ sie die Stätte ihres infamen Verbrechens. Die gebrochenen Augen ihres ermordeten Bräutigams grinsten unheimlich, als wollten sie sie anklagen.

Der Abend begann bereits zu dämmern, das Mordzimmer lag im Halbdunkel. Von einer benachbarten Kirche ertönte das Abendgeläut. Ein heftiger Schauer überfiel sie. Die Mörderin lief, so schnell sie es vermochte, zum Bahnhof, um mit dem nächsten Zuge nach Freiberg zu fahren. Die Menschen, die ihr auf der Straße begegneten, ahnten selbstverständlich nicht, daß die feingekleidete, hübsche, junge Dame eine grausame Mörderin war.

Mit Blut besudelt, langte des Bürgermeisters Töchterlein in Freiberg an. Sie begab sich in eine Gesellschaft, wo viel gelacht, gegessen und getrunken, musiziert und getanzt wurde. Niemand merkte der liebreizenden Bürgermeisterstochter auch nur das Geringste

Gretchen war ungemein heiter und seelenvergnügt. Sie erzählte ihren Freundinnen: Ihr Bräutigam freue sich, daß er sie sehr bald werde als Gattin heimführen können, er habe bereits eine sehr hübsche Wohnung gemietet. »Ich bin alsdann Frau Oberingenieur,« rief sie freudig aus.

Kehren wir nun an die Stätte des Verbrechens zurück. Etwa eine Stunde nach der grausigen Tat trat der Bruder des so jäh Ermordeten, Gerichtsreferendar Karl Preßler, in das Mordzimmer. Entsetzt wich er zurück, als er seinen Bruder als Leiche auf der Chaiselongue liegen sah. Referendar Preßler war sofort der Überzeugung, sein Bruder habe Selbstmord begangen. Der Revolver lag neben der Leiche. Einen Schuß hatte er sich in den Mund gegeben. So handelt nur ein Selbstmörder. Auf dem Tisch lag ein Brief, der zweifellos von seinem Bruder geschrieben war. In diesem Briefe bat er den Bruder um Verzeihung, daß er ihm das Schreckliche angetan habe, er war aber genötigt, aus dem Leben zu scheiden. Er bitte ihn, seine Braut und alle Angehörigen zu trösten. Auch die polizeiärztliche Untersuchungskommission gewann nach eingehender Prüfung die Überzeugung, daß Preßler Hand an sich gelegt habe. Die Leiche wurde deshalb in das Krematorium für Selbstmörder geschafft und dort eingeäschert.

Inzwischen fand man im Nachlaß des Entseelten ein Testament, in dem Grete Beier zur Universalerbin eingesetzt war. Diese Entdeckung sowie das Verhalten der Grete machte den Referendar Preßler etwas stutzig. Er ließ den erwähnten Brief und das Testament durch Schreibsachverständige prüfen. Letztere gelangten zu der Überzeugung, daß beides gefälscht war. Referendar Preßler erstattete sogleich Anzeige.

Grete Beier, die sich bereits seit einiger Zeit wegen Unterschlagung eines Sparkassenbuchs in Untersuchungshaft befand, gestand nach anfänglichem Leugnen, daß sie den Brief und das Testament gefälscht und alsdann Preßler ermordet habe. Sie gestand auch, daß sie lange vor dem Morde eine Brander Botenfrau beauftragt hatte, ihr in einer Freiberger Waffenhandlung einen Revolver mit scharfen Patronen zu kaufen. Der Waffenhändler hatte aber die Verabfolgung des Revolvers abgelehnt, weil die Botenfrau keine Bescheinigung hatte.

Am folgenden Tage kam die Botenfrau mit einer von Grete Beier ausgestellten Bescheinigung, darauf erhielt sie den Revolver. Der Waffenhändler gab aber nur Platzpatronen und machte dem Bürgermeister Beier von dem Waffenkauf seiner Tochter telephonische Mitteilung.

Der Bürgermeister nahm darauf seiner Tochter den Revolver ab und brachte ihn nach einigen Tagen dem Waffenhändler zurück. Es gelang alsdann der Bürgermeisterstochter, sich einen Revolver mit scharfen Patronen zu beschaffen, den die Brander Polizeibehörde mit Beschlag belegt hatte, da der Besitzer des Revolvers den Versuch gemacht hatte, sich zu erschießen. Mit diesem Revolver hatte Grete Beier ihren Bräutigam, den Oberingenieur Preßler, erschossen.

Am 4. Juni 1908 wurden Grete Beier und Hebamme Kunze von der Strafkammer zu Freiberg in nichtöffentlicher Sitzung wegen Abtreibung, im Sinne des § 218 des StGB., unter Zubilligung mildernder Umstände, zu je einem Jahre Gefängnis verurteilt.

Am folgenden Tage, den 5. Juni 1908, hatte sich Grete Beier vor demselben Gerichtshof in öffentlicher Sitzung wegen versuchter Anstiftung zum Morde, Testamentsfälschung, schweren Diebstahls und schwerer Urkundenfälschung zu verantworten. Mit ihr waren angeklagt Hebamme Kunze wegen Beihilfe zum Diebstahl und Begünstigung und Handlungsgehilfe Hans Merker wegen Hehlerei. Letzterer, damals 27 Jahre alt, machte einen sehr unsympathischen Eindruck. Er verbüßte zur Zeit wegen Unterschlagung eine zweijährige Gefängnisstrafe.

Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Dr. Rudert. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Dr. Manuel. Die Verteidigung hatten die Rechtsanwälte Dr. Knoll (Dresden) und Vollhering (Freiberg) übernommen. Grete Beier wurde beschuldigt, aus einer verschlossenen Kassette, die dem Armenhausverwalter Kröner gehörte, 300 Mark bares Geld und ein Sparkassenbuch über 4234 M. genommen zu haben. Mit diesem Sparkassenbuch war sie auf die Freiberger Bank gegangen, hatte sich als Erna geborene Kröner ausgegeben und das Geld abgehoben. Sie hatte außerdem aus der Untersuchungshaft heraus an Merker einen Brief geschrieben), in dem sie ihn aufforderte, eine Frau Schlegel, die von ihrem Diebstahl wußte, zu ermorden.

Grete Beier bestritt nur die Testamentsfälschung, alles andere gab sie zu.

Vorsitzender: Wissen Sie, wer das Testament gefälscht hat?

Angeklagte: Jawohl, ich weiß es, ich kann aber die Person nicht nennen. Die Angeklagte Kunze gab die ihr zur Last gelegten Straftaten zu.

Angeklagter Merker: Ich habe nicht gewußt, daß das Geld, das ich von Grete erhielt, auf unrechtmäßige Weise erworben war.

Vorsitzender: Was machten Sie mit dem vielen Gelde? Es wird behauptet, Sie haben es in Gesellschaft liederlicher Frauenzimmer durchgebracht?

Angeklagter: Das ist eine Lüge.

Vorsitzender: Sie scheinen einen ungünstigen Einfluß auf Grete Beier ausgeübt zu haben. Sie haben sie in ihrem Lügengewebe aufs tatkräftigste unterstützt. Wissen Sie, woher Grete das viele Geld hatte?

Angeklagter: Sie sagte immer, sie hätte einen ihrer Onkels einen Tag vor dessen Tode besucht und da habe dieser ihr das Sparkassenbuch und eine größere Summe geschenkt.

Vorsitzender: Sie mußten doch aber aus allen Umständen entnehmen, daß das Geld unrechtmäßig erworben war. Die Beier schrieb Ihnen wiederholt, Sie sollten niemandem sagen, daß Sie Geld erhalten haben.

Angeklagter: Ich verstand darunter, daß wir Konflikte mit den Eltern vermeiden sollten. Die Beier schrieb mir eines Tages, sie hätte jeden Muskel und jeden Nerv angespannt, daher das Geld. Ich wußte nicht, was ich mir darunter vorstellen sollte. Später erfuhr ich, daß sie den Brief geschrieben, nachdem sie ihren Bräutigam Preßler erschossen hatte.

Vorsitzender: Hat Grete Beier aus der Untersuchungshaft viele Kassiber an Sie geschrieben? Angeklagter: Nur den einen, in dem sie mich zum Morde anstiften wollte. Der Brief begann mit den Worten: »Hans, ich habe Dich von Preßler befreit. Ich habe Dich gerächt. Er hat es gewagt, Dich zu schmähen. Jetzt mußt Du mir aber noch helfen. Das kannst Du nur dadurch tun, daß Du Frau Schlegel und ihre Tochter umbringst. Das geht am besten auf folgende Weise: Du nimmst sie in Narkose und erschießt sie dann. Aber Du mußt schlau zu Werke gehen. Du mußt Dir das Haar schwarz färben lassen und einen Anzug anziehen, daß Du von niemandem erkannt wirst. Wenn Du das tust, bin ich gerettet, wenn nicht, sehen wir uns nicht wieder. Bis Freitag mochte ich Bescheid haben.« Ich sollte dann, wenn ich zu der Tat bereit sei, einen Brief an sie schreiben mit den Schlußworten: »Dein Dich liebender Hans.« Wenn ich die Tat nicht begehen würde, sollte ich den Brief schließen nur mit den Worten: »Dein Hans.« Sie schrieb in dem Briefe auch noch: Wenn ich es nicht tun sollte, dann solle ich mir am Sonntag den schwarzen Rock vorsuchen, und wenn die Kirchenglocken läuten, solle ich an sie denken; denn sie würde dann nicht mehr unter den Lebenden weilen.

Vorsitzender: Wer hat Ihnen den Zettel gegeben?

Angeklagter: Frau Beier. Sie sagte, das ist ja verrückt. Vors. (zur Angekl. Beier): Haben Sie den Brief geschrieben?

Angeklagte Beier: Ja, ich war damals furchtbar aufgeregt. Es war kurz nach der Vernehmung durch den Untersuchungsrichter. Der Untersuchungsrichter schien meinen Angaben nicht zu glauben. Die Tat hatte ich noch nicht gestanden. Da mein Vater noch lebte, wollte ich ihm diesen Schmerz nicht antun. Deshalb schrieb ich den Brief. Ich habe aber nicht geschrieben, daß Merker die Tochter der Frau Schlegel umbringen sollte. Ich habe lediglich geschrieben, er solle sehr vorsichtig zu Werke gehen und die Sache so machen, daß er die Tochter nicht treffe. Von Erschießen habe ich nichts geschrieben. Ich habe allerdings den Brief sehr phantastisch angelegt. Ich muß verrückt gewesen sein, als ich das geschrieben habe.

Vorsitzender: Der Zettel war in eine Bluse eingenäht, Sie sind also sehr vorsichtig zu Werke gegangen. Sie bleiben dabei, daß Merker vollständig im klaren war, daß Sie das Geld auf unrechtmäßige Weise erworben hatten?

Angeklagte: Natürlich, ich gab ihm doch das Geld heimlich und riet ihm dringend, vorsichtig zu sein, damit niemand etwas merke.

Vorsitzender: Weshalb gaben Sie ihm überhaupt Geld?

Angeklagte: Ich mußte es ja tun, ich mußte sein Schweigen erkaufen. Er drohte fortwährend, daß er die Abtreibung Preßler mitteilen würde. Es gelangte alsdann eine Reihe Briefe, die Grete Beier an Merker geschrieben hatte, zur Verlesung.

Vorsitzender: Es ist auffällig, Merker, daß Sie niemandem sagten, von wem Sie das Geld hatten. Wenn Sie damals mit der Beier verlobt waren, konnten Sie doch ruhig sagen, Sie haben von Ihrer Verlobten Geld bekommen?

Angeklagte: Das wäre mir peinlich gewesen.

Vorsitzender: Stattdessen machten Sie bei der ersten Vernehmung vor dem Kriminalkommissar Fegenbrecht allerlei falsche Angaben.

Angeklagter: Ich werde doch das Mädchen, das ich so sehr liebte, nicht gleich hineinreiten. Ich sagte deshalb zunächst die Unwahrheit.

Grete Beier: Merker wußte alles ganz genau. Wir hatten vereinbart, er solle sagen, er habe das Geld durch Grundstücksspekulationen erworben.

Vorsitzender: Merker gab früher einmal an, der Vater Beier habe ihn zum Morde verleiten wollen.

Angeklagter Merker: Als ich den Vater Beier einmal in Dresden im Krankenhause kurz vor seinem Ende besuchte, forderte er mich mit lallenden Worten auf, eine Frau Flade aus dem Wege zu räumen. Weshalb, sagte er mir nicht. Er sagte, ich solle sie ins Freie locken und dann töten.

(…)

Polizeiwachtmeister Fähndrich, Freiberg, bekundete als Zeuge: Nach dem ersten Verhör habe er von der Mutter Beier mehrere Briefe erhalten, in denen er inständigst gebeten wurde, die Sache möglichst niederzuschlagen, damit der alte Beier, der damals im Dresdener Krankenhause lag, von dem Schmerz verschont werde. Frau Beier schrieb in einem Brief, daß er schon dafür belohnt werden würde. Weiter hatte Frau Beier, wie der Vorsitzende feststellte, sich auch brieflich an den Vorgesetzten des Zeugen Fähndrich, einen Stadtrat in Freiberg, gewandt.

In diesen Briefen gab sie ihrem großen Bedauern Ausdruck, daß ihrer Tochter Grete, die sich bei ihren angenehmen Charaktereigenschaften bei der ganzen Einwohnerschaft Brands einer außerordentlichen Beliebtheit erfreue, diese Schande gemacht werde. An allem sei nur der gewissenlose Betrüger Preßler schuld. Er habe es vierzehn Monate lang unter falschen Vorspiegelungen verstanden, bei der Familie Beier zu verkehren. Er habe auch seine eigene Mutter getäuscht; allen Leuten habe er verheimlicht, daß er bereits ein Jahr lang in Italien mit einer gewissen Veroni verheiratet war, daß er auf seinen Reisen ein ausschweifendes Leben geführt habe, so daß seine Gesundheit dem Zusammenbruch nahe gewesen sei.

(…)

Als nun die Fälschungen und Betrügereien Grete Beiers herauskamen, wandte letztere sich brieflich an Frau Schlegel mit dem Ersuchen, sie möge sich mit der Zession der Erbschaft an sie (Grete Beier) einverstanden erklären. Ihr könne doch nichts daran liegen, daß ihr junges Leben vernichtet und daß sie wie eine Diebin und Verbrecherin bestraft werde. Wenn sie sich mit den Maßnahmen einverstanden erkläre, die sie (Grete Beier) in den gefälschten Briefen niedergelegt habe, dann sei es möglich, die ganze Affäre aus der Welt zu schaffen. In dem Brief drohte jedoch Grete Beier der Frau Schlegel, sie werde sie, wenn sie darauf nicht eingehe, der Fälschung bezichtigen.

(…)

Grete Beier: Mir tut es leid, daß Sie meinen Vater jetzt mit Schmutz bewerfen. Ich kann nur wiederholen, Frau Kunze hat mir wiederholt den Gedanken nahegelegt, mir etwas von der Erbschaft anzueignen. Sie hatte ja ein Interesse daran, daß ich Geld bekam. Sie kannte mein Verhältnis zu Merker, der immer Geld brauchte und mir drohte, wenn ich ihm kein Geld gab. Merker (erregt aufspringend): Ich verbitte mir, Fräulein Beier, zu sagen, daß ich Sie bedroht habe. Ich habe Sie niemals bedroht. Ich habe höchstens damit gedroht, daß ich mich von Ihnen lossagen werde, wenn Sie sich nicht mit Preßler entloben.

(…)

Am 29. Juni 1908 hatte sich Grete Beier wegen Ermordung ihres Bräutigams, des Oberingenieurs Preßler, und wegen schwerer Urkundenfälschung vor dem Schwurgericht zu Freiberg in Sachsen zu verantworten. Das an der Promenade gelegene Gerichtsgebäude war von einer nach Tausenden zählenden Menschenmenge belagert; der Zuhörerraum des Schwurgerichtssaales wurde fast gestürmt. Den Vorsitz des Schwurgerichtshofs führte Landgerichtsdirektor Rudert. Die Anklage vertrat auch hier Staatsanwalt Dr. Mannel, die Verteidigung führte Rechtsanwalt Dr. Knoll aus Dresden.

Auf Aufforderung des Vorsitzenden erzählte die Angeklagte in tadellosem, fließendem Deutsch: Ich bin am 25. September 1885 in Brand als Tochter des dortigen Bürgermeisters geboren und evangelischer Konfession. Nach meiner Konfirmation kam ich in die Tanzstunde. Dort lernte ich einen Herrn Öhlsner kennen, zu dem ich mich um so mehr hingezogen fühlte, als meine Mutter sehr schroff und lieblos zu mir war. Mein Vater und meine Großmutter waren zwar sehr gut, aber meine Mutter wies meine Zärtlichkeiten zurück. Als ich sie einmal umarmen wollte, stieß sie mich von sich. Bettelarm kam ich mir immer vor, wenn ich sah, wie andere Mädchen mit ihren Müttern verkehrten. Unter diesen Umständen hatte ich mehr wie andere Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit.

Ich fühlte mich allein auf der Welt und freute mich daher, in Öhlsner einen Menschen gefunden zu haben, dem ich mich anschließen konnte. Es war ein schönes, rein ideales Verhältnis; jedoch die Mutter war dagegen; denn ihr genügte der junge Mensch nicht. Ich aber fand ihn sehr lieb und konnte nicht von ihm lassen. Wir setzten daher unsern Verkehr heimlich fort. Im Laufe der Zeit nahm das Verhältnis einen intimeren Charakter an, ich konnte ihn nicht abweisen. Durch Mißverständnisse kamen wir auseinander.

Am 25. Februar 1905 lernte ich auf einem Maskenball des kaufmännischen Vereins in Freiberg Merker kennen. Es war sozusagen eine Liebe auf den ersten Blick, denn wir fanden sofort Gefallen aneinander. Schon am 9. März desselben Jahres verlobten wir uns heimlich. Er wußte so schön zu erzählen. Neben der Liebe zog mich Mitleid zu diesem Mann, der allein auf der Welt stand. Es war eine sehr glückliche Zeit, die ich mit ihm verlebte, auch ein schönes ideales Verhältnis. Da erfuhr ich von Unterschlagungen, die er im Geschäft begangen hatte. Kniefällig bat er meinen Vater, ihn zu retten, aber ich war dagegen.

An einem Sonntagmorgen kam er wieder: »Nur Sie können mir helfen!« sagte er zu meinem Vater. Ich kümmerte mich nicht um ihn, sondern ging in die Kirche. Ich bin überhaupt – wenigstens war es früher so – sehr religiös veranlagt, ich bin nicht so ruchlos, wie ich jetzt erscheinen mag. In der Kirche sprach der Pfarrer über das Thema vom verlorenen Sohn. Er legte nahe, daß wir nicht das Recht hätten, über die Menschen zu richten, und daß wir einem, der gestrauchelt sei, helfen müßten. Die Rede machte tiefen Eindruck auf mich.

Ich faßte den Entschluß, aus Merker einen tüchtigen Menschen zu machen. Ich glaubte nicht, daß er ein unverbesserlich leichtsinniger Mensch war. Er bekam also von uns das Geld, und von jetzt ab wurde der Verkehr intimer, ich nahm ihn wiederholt mit auf mein Zimmer. Um diese Zeit hörte ich, daß Merker auch andere Verhältnisse hatte. Es gab Szenen und Auftritte, in deren Verlauf Merker hartnäckig leugnete. Aber ich blieb mißtrauisch.

Am 15. Februar 1906 lernte ich auf dem Ingenieurbau in Chemnitz Preßler kennen. Er war mein Tischherr, und wenn ich mich auch nicht gleich zu ihm hingezogen fühlte, so interessierte er mich doch. Es folgte ein längerer Briefwechsel, schließlich lud er mich ein, ihm in Chemnitz zu besuchen. Wir gingen ins Theater. Für den andern Tag war Preßler zu Mittag geladen, er sagte, daß er durchaus ernste Absichten habe, ich wollte mich aber nicht gleich binden.

Als er mir vor dem Essen auf dem Flur das Jackett hielt, versuchte er, mich an sich zu ziehen. »So schnell auf keinen Fall!« sagte ich. Beim Essen faßte er plötzlich meine Hand mit den Worten: »Wir beide müssen zusammenbleiben.« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Dieser Händedruck war eigentlich die ganze Liebeserklärung Preßlers. Ich mochte ihn auch ganz gern leiden, wenn ich ihn auch noch nicht lieben konnte. Ich empfand es gewissermaßen als eine Genugtuung, daß ein Mann von der Stellung Preßlers sich für mich interessierte.

Dann aber glaubte ich auch im Sinne meiner Mutter zu handeln, der Merker nicht genügt hatte und der Preßler genügen mußte. Schließlich sagte ich mir, daß ich durch die Verlobung mit Preßler dem Merker einen empfindlichen Schlag versetzen könnte. Ich konnte ihm beweisen, daß ich nicht auf ihn angewiesen war. Deshalb habe ich mich mit ihm verlobt. Ich war zwar nicht sehr glücklich, aber ich dachte, daß sich das schon geben würde. Preßler hatte sogar schon den Tag der Hochzeit festgesetzt, er hatte die Ringe gekauft. Je näher aber ich ihn kennenlernte, desto mehr erfuhr ich, daß er doch ein ganz anderer war, als wie ich ihn zuerst kennengelernt hatte. Er war unfreundlich und grob zu mir, ich kann wohl sagen, daß ich Furcht vor ihm hatte. Das konnte ich nicht vertragen, ich wurde unglücklich.

Auf den Spaziergängen mit Preßler sah ich häufig Merker. Auch hatte ich gehört, daß Merker gesagt hat, er könne mich nicht vergessen, und daß er bei der Nachricht von meiner Verlobung sich wie rasend benommen hätte. An einem Tage, an dem ich Preßler besonders schlecht behandelt hatte, faßte ich den Entschluß, mit Merker zusammenzutreffen. Ich mußte von Preßler los, sonst sah ich ein Unglück voraus. Zitternd betrat ich das Zimmer Merkers und warf mich dem Geliebten in die Arme. »Ich wußte ja, Gretel, daß du wiederkommen würdest, denn du fühlst dich unglücklich,« sagte Merker. »Ja,« sagte ich »ich fühle mich sehr unglücklich.« »Dann löse doch die Verlobung,« sagte Merker. Er tröstete mich, doch bei diesem Zusammensein ist zwischen uns beiden nichts passiert.

Von diesem Moment ab war ich aber eine ganz andere geworden. Ich hatte Mut und Energie bekommen, vor allem war ich auf Preßler mehr wie ärgerlich. Ich behandelte ihn absichtlich niederträchtig, denn er sollte mich satt bekommen. Es gab schließlich einen lebhaften Auftritt mit Preßler, der zum vollständigen Bruche führte. Da sah meine Mutter ein, daß der Rücktritt von der Verlobung die beste Lösung des Verhältnisses sein würde, und wir fuhren am nächsten Morgen nach Hause. Ich atmete auf, wie von, einer schweren Last befreit. Nun schien die Sonne auch wieder für mich. Kaum waren wir zu Hause angekommen, da traf auch schon ein eingeschriebener Brief von der Mutter Preßlers ein, in dem sie mich dringend bat, den zurückgegebenen Verlobungsring wiederzunehmen. Sie schrieb: »Seien Sie sicher, mein liebes Kind, Karl wird Sie glücklich machen.« Meine Mutter redete mir zu, und ich gab nach.

(…)
Auszüge aus der Verhandlung:

Vorsitzender: Revolver und Zyankali hatten Sie bei sich?

Grete Beier: Ja.

Grete Beier: Nein, meine Erregung hatte sich inzwischen gelegt. Ich telephonierte nach Brand an meine Eltern, daß ich mich in angenehmer Gesellschaft befände und erst mit dem letzten Zuge kommen werde. Unser Mädchen holte mich von der Bahn ab und fragte mich, ob ich mich gut amüsiert hätte, was ich bejahte.

Vorsitzender: Wie war es denn mit dem Schlaf?

Grete Beier: Zuerst schlief ich sehr schlecht, dann aber fiel ich infolge allgemeiner Abspannung in einen tiefen Schlaf.

Vorsitzender: Was geschah am Morgen des 14. Mai?

Grete Beier: Da kam ein langer Veronibrief an, den ich am Tage vorher in Chemnitz zur Post gegeben hatte. Die Mutter las ihn und ersuchte mich, sofort an Preßler zu schreiben.

Vorsitzender: Das taten Sie natürlich?

Grete Beier: Ja. Am 15. Mai kam ein Brief mit der Mitteilung, daß Preßler sich erschossen hätte. Ich fuhr noch am Vormittag desselben Tages nach Chemnitz. Am folgenden Tage fand die Einäscherung statt, Mutter und ich wohnten ihr bei.

Vorsitzender: Wurde bei all diesen Vorgängen niemals Ihr Gewissen lebendig?

Grete Beier: Nein, es war mir so, als ob Preßler wirklich Selbstmord begangen hätte. Alle Welt brachte den Selbstmord mit dem in letzter Zeit besonders verschlossenen Wesen Preßlers in Zusammenhang.

Vorsitzender: Am 15. Mai schrieben Sie an Merker: »Nun bin ich gänzlich frei, mein Schatz, aber nicht durch eine Entlobung, sondern Gott hat selbst gerichtet!«

Grete Beier: Jawohl.

Vorsitzender: Früher sagten Sie, Sie hätten Preßler aufgefordert, er solle mal den Mund aufmachen, Sie hätten ihm etwas mitgebracht.

Grete Beier: Ich hatte mir das so ausgedacht.

Vorsitzender: Schließlich sagten Sie Preßler nach, er habe in Zwickau zwei uneheliche Kinder abgeschworen.

Grete Beier: Gesagt habe ich es, es ist aber nicht wahr.

Vorsitzender: Weshalb verleumdeten Sie nun noch den Mann, den Sie ermordet hatten?

Grete Beier: Weil es Merker gefiel, wenn ich Preßler recht schlecht machte.

Am zweiten Tage der Verhandlung wurden Briefe verlesen, die Grete Beier an Preßler und Merker und diese an Grete Beier gerichtet hatten. In einem Brief vom Anfang Dezember 1906 schrieb Grete Beier an Merker: »Weißt Du, Schatz, der Gedanke, meinem Vater – meine Mutter kommt nicht in Betracht, denn sie steht meinem Herzen ziemlich fern – einen Kummer zu bereiten, kann mich förmlich wahnsinnig machen, wenn er erfahren würde, was sein einziges Kind für ein verworfenes Geschöpf ist. Er wird denken: wäre sie doch lieber gestorben, denn dann könnte ich sie doch wenigstens noch achten. Auch Du, Hans, kannst mich nicht mehr achten. Ich habe es selbst schon gefühlt, daß ich ein leichtsinniges, gewissenloses und gewöhnliches Mädchen bin, nicht besser als die erste beste. Aber eine Entschuldigung gibt es für mich: was ich tat, geschah aus Liebe zu Dir. Ich bin sehr verzweifelt, da meine eigene Mutter mir drohte, mich auf die Straße zu setzen.«

In einem zwölf Seiten langen Brief vom 5. Dezember 1906 an Grete Beier löste Preßler die Verlobung. Er zeichnete darin in kurzen Umrissen sein Ideal einer Frau und eines Familienlebens, das Grete Beier in keiner Weise erreiche. Er rechne es ihrer Jugend und ihrer geringen Weltkenntnis zugute, wenn sie kein Verständnis für das besitze, was sie ihm angetan habe. Am Schluß des Briefes brach er in die verzweifelten Worte aus: »Hätte ich Dich nicht geliebt, so hätte ich nicht den Glauben an die Menschheit verloren!«

Vorsitzender: Der Brief gewährt einen interessanten Einblick in die Seele Preßlers. Er gab Sie vollständig frei, in vollständiger Harmonie sollten Sie auseinandergehen.

Grete Beier: Ich war auch sehr damit einverstanden.

Vorsitzender: Preßler malt in dem Briefe aus, wie er sich ein Familienleben vorstellt. Ich muß sagen, eine idealere Auffassung kann man vom Familienleben nicht haben, und Sie sagten, er sei barsch und schroff gewesen.

Grete Beier: Preßler gab sich in seinen Briefen immer rührend, in Wirklichkeit war er schroff. Ich muß sagen, daß dieser Brief mich sehr angenehm berührt hat. Ich war auch gerührt; durch meine Mutter wurde ich jedoch darauf gebracht, daß Preßler den Brief aus Berechnung geschrieben hätte. Ich sollte gerührt werden, um in dieser Rührung mich wieder zu ihm zu schlagen.

In einem Brief an Merker schrieb Grete Beier, daß sie den Verkehr mit Preßler jetzt anfange von der humoristischen Seite zu nehmen. In einem anderen Briefe fanden sich Wendungen wie: »Sein Ehrenwort soll man zwar halten, aber in Liebessachen ist das etwas anderes,« und weiter: »Die Gesetze sind dazu da, um umgangen zu werden, Liebe macht erfinderisch.« Von dem Abschiedsbriefe Preßlers an Grete Beier sagte die Angeklagte, daß sogar die Mutter davon gerührt war, sie habe damals wirklich geweint. Von besonderem Interesse waren die mit »Veroni« gezeichneten gefälschten Briefe der Beier an Preßler.

Vorsitzender: Die Veronibriefe lassen sich nicht anders erklären, als daß Sie schon bei der Abfassung den Gedanken gehabt haben, Preßler aus dem Wege zu räumen. Wenn die Briefe einen Sinn haben sollten, dann kann es nur der gewesen sein, einen Grund für einen Selbstmord Preßlers zu haben.

Grete Beier: Ich hatte bei der Abfassung des ersten Veronibriefes im Februar noch nicht den festen Plan gefaßt, Preßler umzubringen, ich schwankte noch hin und her.

Der Veronibrief, den Grete Beier am Tage vor dem Mord geschrieben und nach vollbrachter Tat auf dem Schreibtisch Preßlers niedergelegt hatte, lautete: »Chemnitz, den 12. Mai. Hierdurch teile ich mit, daß ich wieder in Chemnitz eingetroffen bin. Ich habe Deiner armen Braut alles geschrieben, denn ich kann den Betrug nicht länger ansehen. Es ist eine reine Schande, die Frau eines solchen Mannes zu sein. Ein Glück nur, daß es niemand weiß. Du bist doch ein ganz erbärmlicher, feiger Schuft. Wenn. Du nicht nach Brand fährst und die Wahrheit sagst, fahre ich hin und erzähle allen Deine Schlechtigkeiten. Ich kenne Deine Braut noch nicht, aber ich habe gehört, daß sie ein Engel voller Liebe und Güte ist. Du hast geglaubt, ich bin so dumm und bleibe immer in Italien. Aber ich habe Dich von Anfang an beobachtet und nur jetzt auf die Hochzeit gewartet. Deine ‚Ehegattin‘ Leonore Preßler geb. Veroni.«

Vorsitzender: Dieser Brief ist doch geradezu etwas Unerhörtes. Um einen Selbstmord glaubhaft zu machen, legten Sie diesen Schwindelbrief auf den Schreibtisch des Mannes, den Sie wenige Minuten vorher erschossen hatten. Können Sie irgendetwas dazu angeben?

Die Angeklagte schwieg. Der zweite Veronibrief, den Grete Beier an sich selbst adressierte und nach der Ermordung Preßlers in Chemnitz zur Post gegeben hatte, lautete: ?Sehr geehrtes Fräulein! Als rechtmäßige Gattin Preßlers fühle ich mich verpflichtet, Ihnen die volle Wahrheit zu schildern, da ich der elenden Schurkerei endlich ein Ziel setzen will. Ich war die Tochter eines kleinen italienischen Staatsbeamten. Meine Mutter war eine Deutsche und wohnte in Riva am schönen Gardasee, wo sie sich mit meiner bildhübschen Schwester aufhielt. Dort lernten wir Preßler kennen.

Er ging meiner Schwester nach und knüpfte Beziehungen mit ihr an, die nicht ohne Folgen blieben. Da Preßler meine Schwester von sich stieß, nahm sie sich das so zu Herzen, daß sie an einem Morgen mit durchschossenem Munde und Kopfe am Ufer des Sees gefunden wurde. Nur ich wußte, was vorgegangen war, nur ich kannte den erbärmlichen Kerl. Lediglich das Gefühl der Rache beseelte mich. Nachdem ich die Zustimmung meiner Eltern erlangt hatte, gelang es mir, Preßler durch Drohungen zur Heirat zu bewegen. Er wurde mir nach katholischem Ritus angetraut, d.h. die Ehe wurde unlöslich geschlossen.

Ich hatte niemals Gemeinschaft mit ihm, er sollte nur an mich gebunden sein. Er schickte mir alljährlich Geld, wofür ich ihm das Versprechen geben mußte, nicht nach Chemnitz zu kommen. Ich besorgte mir aber einen Detektiv, der ihn beobachtete. Mein ‚Gatte‘ lebt in Chemnitz mit seiner Wirtin und deren Tochter in ungestörter wilder Ehe. Er hat in Zwickau zwei Kinder abgeschworen. Dann verlobte er sich mit Ihnen. Er weiß jetzt, daß ich in Chemnitz bin und ist daher der Verzweiflung nahe. Nur ein Weg bleibt ihm: denselben Tod zu suchen, den meine arme Schwester gefunden hat. Danken Sie Gott, daß Sie diesen Mann loswerden!

Er ist durch seinen leichtfertigen Lebenswandel auch gefährlich krank. Es ist überhaupt eine außerordentliche Frechheit von ihm, sich mit Ihnen zu verloben, da ihm das Zuchthaus sicher ist. Sie werden mich nicht mehr sehen, denn wenn diese Zeilen in Ihre Hände gelangen, bin ich wieder im Auslande. Meine Mission in Deutschland ist erfüllt, vielleicht sehen wir uns einmal in Italien. Ihre ergebene Leonore Preßler.?

Vorsitzender: Dieser Brief ist nun der Gipfel alles Schwindels und aller Lüge. Können Sie für diese maßlosen Entstellungen irgendeine Entschuldigung angeben?

Die Angeklagte schwieg.

Vorsitzender: Ich möchte der Angeklagten nun nur noch vorhalten, daß sie sich selbst im Gefängnis hat Durchstechereien zuschulden kommen lassen. Zunächst haben Sie auch noch nach dem Geständnis der Abtreibung glühende Liebesbriefe mit Merker gewechselt und ihn angestiftet, Ihre Tante, Frau Schlegel, zu ermorden. Das spricht doch für ein geradezu felsenfestes Vertrauen zu Merker, nicht aber, daß Sie Furcht vor Merker hatten. Außerdem haben Sie sich auch auf den Spaziergängen und in der Zelle auffällig benommen. Ferner haben Sie einen Brief geschrieben, obgleich Sie gar kein Schreibzeug haben konnten. Wo hatten Sie denn das Material her?

Grete Beier: Von meiner Mutter.

(…)

Der vollständige Text wird publiziert in „Deutsche Mörderinnen“, Verlag Kirchschlager

(…)

Die Geschworenen unterstützten einstimmig das Begnadigungsgesuch des Verteidigers. Der Schwurgerichtsverhandlung hatten im Auftrage des Sächsischen Justizministeriums ein Geheimer Regierungsrat beigewohnt. Nach dessen zweimaligem Vortrage entschied der König von Sachsen: Er fühle sich nicht veranlaßt, von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch zu machen. Infolgedessen erfolgte am 23. Juli 1908 im Hofe des Freiberger Gerichtsgefängnisses durch den sächsischen Landesscharfrichter Brandt (Hohenlinde bei Oederan) die Hinrichtung der Grete Beier mittels Guillotine. Die Guillotine wurde zwei Tage vor der Hinrichtung von Dresden nach Freiberg geschafft.

Grete Beier betrat, geführt von ihrem Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Knoll (Dresden) und dem Gefängnisgeistlichen, Pastor Schmidt (Freiberg), ruhig und gefaßt das Schafott. Sie rief mit lauter Stimme: »Vater, Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!« Kaum hatte sie das letzte Wort gesprochen, da sauste das haarscharfe Messer hernieder, das glatt den Kopf vom Rumpfe trennte. Scharfrichter Brandt rief: »Herr Staatsanwalt, das Urteil ist vollstreckt.«

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