Der Würger von Braunschweig (Der Fall Ferenc Sos, Braunschweig 1977) von Gerd Frank

Der folgende Beitrag versteht sich als Leseprobe aus dem Sachbuch: TOTMACHER 1 – Der Vampir von Nürnberg und andere unheimliche Kriminalfälle deutscher Serienmörder von Gerd Frank. Das Buch erscheint Ende Juni 2014 im Verlag Kirchschlager.

Am Donnerstag, dem 20. Januar 1977, entdeckte die Kriminalpolizei Braunschweig eines der brutalsten Verbrechen der deutschen Nachkriegszeit. In einem Einfamilienhaus im Villenviertel von Braunschweig-Mascherode waren fünf Menschen bestialisch ermordet worden: der Volksbankdirektor Wolfgang Kraemer (46), seine Frau Brigitte (40) und drei seiner Kinder. Den Beamten bot sich ein grausiges Bild: Der Hausherr, seine Frau und die Kinder Martin (6), Nele (11) und Stefan (16) lagen erdrosselt am Boden. Als Mordwaffen hatten eine Paketschnur und ein Schal herhalten müssen.

Erst nach langwierigen Ermittlungen konnte das Verbrechen einigermaßen rekonstruiert werden. Demnach hatte in der Nacht zum Donnerstag bei Kurt Rosenau, dem Prokuristen der Volksbank Braunschweig, das Telefon geklingelt.

Es war genau 21 Uhr. Mit entsetzter Stimme meldete sich am anderen Ende der Leitung Direktor Kraemer: „Wir sind überfallen worden! Die Männer fordern eine Million Mark. Bringen Sie mir das Geld sofort in mein Haus. Aber bitte, alarmieren Sie nicht die Polizei, sonst wird meine ganze Familie umgebracht!“

Rosenau rief sofort die Vorstandsmitglieder der Bank sowie seinen Kollegen an, der den zweiten Schlüssel zum Tresor verwahrte. Gemeinsam fuhren sie dann zum Kassengebäude, das gegenüber vom Braunschweiger Hauptbahnhof liegt. Sie suchten alles Geld zusammen, doch es waren nur 165 000 Mark.

Mit dem gefüllten Geldkoffer rasten zwei Angestellte sofort in den Villenvorort Mascherode. Ihr Chef wartete bereits aufgeregt hinter der Tür. Kaum stand der Koffer auf der Treppe, da hatte Kraemer ihn auch schon hineingezogen. Die Bankleute fuhren zurück. Bei der Volksbank hatte man sich inzwischen entschlossen, tatsächlich keine Polizei einzuschalten. Erst elf Stunden nach dem Hilfeanruf alarmierte der Vorstand der Volksbank die Kriminalpolizei – doch da war es bereits zu spät. Denn als die Kripo das Einfamilienhaus im Nobelviertel Braunschweigs stürmte, lag der Hausherr tot in der Kellerbar.

Seine Frau war mit einem Strick im Wohnzimmer erdrosselt worden. Die Leichen der Kinder fanden die Beamten in den verschiedenen Schlafzimmern. Neben den Ermordeten lag ein Brief. Er trug die Aufschrift „Für die Befreiung Baaders. Das war nur der erste Streich“ und lautete in holprigem Deutsch: „Mit dieser Aktion wird auch die sofortige Freilassung sämtlicher Baader-Meinhof-Mitglieder verlangt. Da es sich um die Überwindung verwaltungstechnischer und politischer Schwierigkeiten handeln wird, darf eine Frist von acht Tagen verwendet werden. Als erster wird Andreas Baader verlangt und sein Entlassungstermin durch die Presse veröffentlicht werden. Sollte dieser ersten Forderung nicht nachgegeben werden, werden Sie eine völlig neue Befreiungsaktion kennenlernen, und zwar mit den brutalsten und bisher noch völlig unbekannten Mitteln.“ Die Kripo betrachtete den Brief jedoch als „Ablenkungsmanöver“ vom wahren Motiv der Mörder.

Der Wagen von Brigitte Kraemer, ein roter VW Käfer mit dem Kennzeichen „BS-L-617“, war aus der Doppelgarage verschwunden. Der Ford Granada des Mannes stand dagegen noch da. Anderntags wurde das gestohlene Fahrzeug auf dem Gelände des Braunschweiger Hauptbahnhofs gegenüber der Volksbank aufgefunden.

Was hatte sich da für ein Drama abgespielt? Das Mordhaus war ein Einfamilienhaus schlichten Schnittes auf einem 684 m2 großen Grundstück. Es lag an der Kohliwiese, einer 210 m langen Sackgasse, der letzten Straße vor freiem Feld am südwestlichen Ortsrand von Braunschweig-Mascherode, und stand etwa in der Mitte der an beiden Seiten mit Einfamilienhäusern bebauten Straße. Dieses Haus und die Lebensgewohnheiten seiner Bewohner konnte man nicht auskundschaften, ohne aufzufallen. Doch es war niemand aufgefallen.

In der Straße, in der Ungewöhnliches sofort auffallen würde, in der man aber das Gewohnte kaum noch bemerkte, erinnerte man sich später daran, daß Martin am 19. Januar 1977 zuletzt gegen 14.30 Uhr gesehen worden war. Da hatte er mit seiner Schwester Nele gespielt. Stefan war zuletzt um 16.15 Uhr und kurz vor 17 Uhr gesehen worden. Er fuhr auf seinem Moped. Um 17 Uhr hatte er eine Verabredung mit einem Freund, die er nicht einhielt. Der Freund ging daraufhin zum Haus der Kraemers. Brigitte Kraemer, die Hausfrau, öffnete die Tür, Stefan sei nicht zu Hause. Doch als sie das um etwa 17.10 Uhr sagte, war in der offenen Garage Stefans Moped zu sehen.

Nach diesem Gespräch an der Haustür wurde Brigitte Kraemer nicht mehr gesehen. Vor dem Gespräch war gegen 16 Uhr bemerkt worden, daß sie in ihrem roten VW Käfer nach Hause gefahren war. Befanden sich Brigitte Kraemer, Martin und Stefan um diese Zeit bereits in der Hand eines Eindringlings, als Brigitte Kraemer sagte, Stefan sei nicht zu Hause – obwohl das Moped in der Garage doch für seine Anwesenheit sprach?

Es war nicht undenkbar, daß ein Mensch allein die Tat begangen hatte. Er konnte sich – als nur Martin anwesend war – leicht Zugang verschafft haben. Und als dann Brigitte Kraemer kam, und nach ihr Stefan, war der Eindringling bereits Herr der Szene. Auf diese Weise konnte sich sogar ein Täter allein der ganzen Familie bemächtigt haben.

Die Kripo fahndete fieberhaft nach dem oder den Tätern. Sogar die Interpol wurde eingeschaltet, weil der Verdacht bestand, daß Spuren ins Ausland führten. Die Kraemers hatten keine Feinde gehabt, waren allgemein recht beliebt gewesen. Wo sollte man bei den Ermittlungen ansetzen? Eine Woche nach dem Verbrechen konnte die 70köpfige Sonderkommission den damals 43jährigen Exilungarn Ferenc Sos als mutmaßlichen Mörder – zusammen mit einem gewissen Klaus-Heinz Petereit – festnehmen.

Für die Täterschaft des Ungarn sprachen mehrere Indizien. So hatten die Beamten in der Wohnung des Maschinenschlossers zwei Rollen Bindfäden gefunden, außerdem Schnüre, wie sie bei dem Mord in Braunschweig benutzt worden waren. Dann hatte die Kripo in dem Mordhaus Zigarettenkippen der Marke Reval sichergestellt, die Sos rauchte.

Die Untersuchung der Speichelreste an den Kippen ergab zweifelsfrei, daß es sich um die Blutgruppe A-1 handelte, um die gleiche Blutgruppe, die Sos hatte. Außerdem sollte der Ungar, der in der Unterwelt schon lange „Schlinge“ genannt wurde, weil er bereits früher einmal einen Freund mit einem Bindfaden erdrosseln wollte, verschiedenen Personen von seinen Plänen erzählt haben. Unbeirrt habe er gegenüber einem Mithäftling und einer Hamburger Prostituierten gesagt: „Ich brachte es mit Einbrüchen zu nichts. Jetzt werde ich einen Bankdirektor erpressen.“ Der Mithäftling aus der Hamburger Strafanstalt Fuhlsbüttel war es dann auch, der der Kripo den entscheidenden Tip zur Festnahme des Ungarn gegeben hatte.

Interessant war zudem das folgende Detail. Die Opfer im Mordhaus waren mit einer Paketschnur erdrosselt worden, deren Knäuel der Täter im Kaufhof gekauft haben mußte. In der Packung befanden sich drei farbige Aufkleber. Einer von ihnen konnte am Tatort sichergestellt werden. Schließlich entdeckten die Beamten aber auch noch Geldscheine bei Sos, die aus dem Lösegeld stammten, das der oder die Mörder in Braunschweig erpreßt hatten.

Das reichte für eine Anklage. Doch trotz der nahezu erdrückenden Indizien leugnete der seit zehn Jahren in der Bundesrepublik lebende Ungar hartnäckig, an dem Massaker beteiligt gewesen zu sein. Ein kleiner Schlüssel, den Sos bei seiner Verhaftung in der linken Jackentasche bei sich getragen hatte, wurde ihm schließlich zum Verhängnis. Der Schlüssel paßte nämlich genau zu der orangefarbenen Geldkassette, die die Polizei am 15. Februar 1977, also nahezu einen Monat nach der grausamen Tat, in der Nähe eines Autobahnzubringers bei Hamburg ausgraben konnte. Darin befand sich nahezu die gesamte Beute: 140 000 DM aus dem Lösegeld. Diesen Hinweis hatte die Kripo dem Exfreund des Ungarn, dem Elektriker Klaus-Heinz Petereit (37), zu verdanken. Der hatte den Beamten der Sonderkommission den Ort beschrieben, an dem Sos die Kassette mit dem Geld versteckt hatte. Sie lag 30 cm tief vergraben in einem unwegsamen Gelände neben der Bundesstraße 5 in Hamburg-Horn.

Petereit, der zusammen mit Sos in einer Wohnung in St. Pauli lebte, konnte für die Tatzeit ein Alibi nachweisen. Aber er wußte wohl von Anfang an, wer den Braunschweiger Bankdirektor und dessen Familie umgebracht hatte. Sein Schweigen ließ er sich von dem „Würger von Braunschweig“ mit 16500 DM, also exakt 10 Prozent der Lösegeldsumme. Doch schon kurz nach seiner Festnahme machte Petereit reinen Tisch. Die Kripo konnte auch in Erfahrung bringen, woher die Geldkassette stammte. Sos war noch in der Mordnacht mit dem Zug von Braunschweig nach Hamburg gefahren und hatte sie in der Frühe in einem Kaufhaus gekauft. Drei Tage später war der Ungar dann verhaftet worden.

Im Februar 1978 begann der aufsehenerregende Prozeß gegen Ferenc Sos, der noch immer strikt behauptete, mit den Morden nicht das geringste zu tun zu haben. Die Verteidiger, die Rechtsanwälte Leonore Gottschalk-Solger und Peter Gottschalk, setzten sich dabei – bis ins Plädoyer hinein – vor allem mit dem Kronzeugen Petereit auseinander, in dem sie „einen Nutznießer der nach ihrer Ansicht zu früh auf Ferenc Sos konzentrierten Ermittlungen“ sahen und den sie als Belastungszeugen rundweg ablehnten. Sie konnten letztlich jedoch nicht überzeugen; Staatsanwalt Reinhardt reagierte recht erbittert auf diese Versuche und unterstellte den beiden Verteidigern sogar „Prozeßsabotage“.

Im Mai 1978 wurde der Würger von Braunschweig zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt. Sos verstarb im August 2011 im Alter von 77 Jahren in der Justizvollzugsanstalt Celle.

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