Als Schloß Waldeck noch Zuchthaus war – Ein Beitrag von Jochen Herzog

Nach Überwindung der schwersten wirtschaftlichen Schäden des Dreißigjährigen Krieges wurde es in deutschen Landen Sitte, daß viele der großen und kleinen Landesherren ihre hochragenden, aber meist sehr engen Trutzburgen verließen und sich neue Schlösser und Residenzen bauten. Mit Vorliebe benutzte man die verlassenen Schlösser und Burgen als Zuchthäuser oder als Aufenthaltsort für Festungsgefangene. So erging es auch der alten Burg Waldeck.

Wohl hatte sie schon manchen Gefangenen gesehen und manchem mag sich das Burgverlies erst wieder geöffnet haben, wenn ein mitleidiger Tod sich seiner erbarmt hatte. Aber bei diesen Menschen handelte es sich in der Regel um persönliche Widersacher der Burg- und Landesherren. Anders wurde es, als man 1738 Schloß Waldeck zum waldeckschen Zucht- und Arbeitshaus machte. Jetzt kamen Menschen hierher, die für ihre Missetaten eine von einem ordentlichen Gericht verhängte Strafe abzubüßen hatten.

Blick in das Museum (alle Fotos stammen von Jochen Herzog, dem an dieser Stelle herzlichst gedankt wird)

Trennung auch beim Gottesdienst

Das Schloß beherbergte männliche und weibliche „Arrestanten“, wie man die Gefangenen damals nannte. Sie waren nach Geschlechtern voneinander getrennt. Selbst durch die Gefängniskapelle führte eine hohe Trennwand. Alle konnten den Geistlichen, nicht aber die Männer die Frauen und umgekehrt sehen. Doch einmal konnten die Augen wandern, nämlich beim Sonntagnachmittags-Spaziergang auf dem Schlosshof. Eine Verständigung gab es allerdings auch hier nicht; die einen hatten sich vor dem Bergfried, die anderen vor dem Uhrturm aufzuhalten. Dazwischen lag das Wachhäuschen. Gleichzeitig wurden die Tore besonders gehütet; zusätzliche Wachen besetzten die Altane, um ein Entweichen über die hohen Felswände zu verhindern.

Arbeit an der Marmorsäge

Die Arrestanten wurden mit den mannigfaltigsten Arbeiten beschäftigt. Eine Dauerbeschäftigung hatten bei den Frauen nur gute Spinnerinnen für Flachs und Wolle und bei den Männern gute Weber. Besonders gerühmt war die Kunst der Bildweberei. Sonst kam für Frauen noch das Flechten von Strohmatten in Betracht und, soweit nötig, die hauswirtschaftliche Tätigkeit in der Anstalt selbst.

Für die Männer war im Kellergeschoß eine Marmor-Sägerei und Schleiferei eingerichtet. Verarbeitet wurde Marmor aus Giebringhausen, blau mit weißen Adern. Mit einer Art Schrotsäge wurden die Blöcke in Platten geschnitten. Das Festarbeiten der Säge verhinderten feiner Sand und Wasser, die man in die Schnitte einführte. Die so erzielten Platten waren noch rauh. Mit einem Schleifstein von beachtlichem Durchmesser wurden die gröbsten Unebenheiten beseitigt. Dann wurde von Hand der letzte Schliff gegeben. Der schwere Schleifstein wurde von Gefangenen gedreht. Die Aufsicht sorgte dafür, daß flott gedreht wurde. Auch der Mann, der die Platte vorhielt, wurde zum kräftigen Andrücken ermuntert. Die Marmorabfälle wurden einfach über die Mauern in den Schlossberg geworfen, wo man sie heute noch findet.

Ein Schrecken für alle: Kuhhaare spinnen

Gefangene, bei denen kein Fluchtverdacht vorlag, wurden sowohl zum Dreschen als auch für landwirtschaftliche Außenarbeiten verliehen. Unter Aufsicht eines Wärters zogen sie am frühen Morgen aufs Feld. Sie wurden von den Landwirten verpflegt und kamen erst abends wieder auf die Burg zurück.

Ein besonderes Problem für die zahlreichen Freiwilligen und Unfreiwilligen der Burg war die Wasserversorgung. Der Schlossbrunnen reichte nicht aus, und so mußte der weitere Bedarf, wenn es nicht gerade regnete, vom Mehlborn in der Stadt Waldeck geholt werden. Leicht ging es mit Wagen und leerem Fass den Schlossberg hinunter, aber schwer ging es mit der vollen Ladung den steilen Berg wieder hinauf. Nur kräftige Leute konnte man zum Wasserholen gebrauchen. Um Verdächtige an der Flucht zu hindern, wurden ihnen Fußketten angelegt, auch mußte stets ein Soldat mit Gewehr den Transport geleiten.

Eine Arbeit gab es für Gefangene, vor der sich alle fürchteten, nämlich: Kuhhaare spinnen. Es handelte sich hierbei um Tierhaare, die zu Teppichen verarbeitet wurden. Mit den damaligen Hilfsmitteln konnte man sie nicht verspinnen, und so wurden sie zwischen den Handflächen zu Fäden gerieben, was den Handflächen nicht gerade gut tat.

Die neunschwänzige Katze

Die Behandlung der Gefangenen war für die damalige Zeit human. In der Anfangszeit wurden sie nachts noch angeschlossen, was jedoch bald bis auf wenige schwere Fälle entfiel. Für Gewalttätige und Ausreißer gab es auch später die Kette, in schweren Fällen mit einer Kugel daran, die beim Gehen in der Hand getragen werden mußte. Für besonders schwere Vergehen, Widersetzlichkeit und Meuterei, war die neunschwänzige Katze da. Der arme Sünder mußte sich auf die dafür gebaute Bank legen und empfing in Gegenwart des Inspektors der Anstalt seine Streiche. Vorher wurde er vom Arzt untersucht.

Einst hatten es Gefangene fertig gebracht, sich nachts aus dem Schlafraum zu entfernen und in der Rauchkammer des Inspektors die Güte der Wurst zu versuchen. Sie gingen sorgfältig zu Werke und nahmen immer nur wenig. Doch kamen sie zu oft, und so fiel die Schrumpfung des Bestandes schließlich auf. Der Verdacht fiel zunächst auf die Wachsoldaten, dann streute man abends auf die Gänge Asche und konnte anhand der Spuren die Wurstliebhaber entdecken. Auch diese Straftat wurde durch eine schmerzliche Massage des Rückenunterteils geahndet.

Ein Massenausbruch im Jahre 1850

Bei der Länge der Zuchthausstrafen vieler Gefangenen war der Gedanke an Flucht nur zu verständlich, um so mehr, als nach beiden Seiten in wenigen Kilometern Entfernung die Landesgrenze winkte. Manchem glückte es, andere wurden wieder gefasst. War ein Gefangener entflohen, dann hallten von der Altane des Schlosses drei Kanonenschüsse ins Tal. Sie teilten nicht nur der Bevölkerung den Ausbruch von Gefangenen mit, sondern auch den Gefangenen, daß ihre Flucht entdeckt war.

Ein Massenausbruch ging gegen 1850 vor sich. Gefangene Weber hatten Leinengarn in ihren Schlafraum unter dem Dache geschmuggelt und daraus ein festes Seil geflochten. In einer finsteren und stürmischen Nacht ließen sich 15 Mann über das Dach in die „Grafft“ hinunter. Doch das Seil war zu kurz und fünf Meter mußten gesprungen werden. Hierbei brach ein Ausreißer ein Bein. Seine Kameraden schleppten ihn ein Stück mit, mußten ihn dann aber liegen lassen. Von den 14 wurden einige wieder eingefangen, aber die meisten entkamen.

Unterhalb des Schlosses liegt, heute kaum mehr auffindbar, der Arrestantenfriedhof. Hier wurden die zur letzten Ruhe gebettet, die den Tag ihrer Freiheit nicht mehr erlebten. Für sie alle stand hier ein inzwischen verschwundener Denkstein mit den Bibelversen

Hesekiel 35, 5-6: Darum daß ihr ewige Feindschaft tragt wider die Kinder Israel und triebet sie ins Schwert zur Zeit, da es ihnen übel ging und ihre Missetat zum Ende gekommen war, darum, so wahr ich lebe, spricht der HERR, will ich dich auch blutend machen, und du sollst dem Bluten nicht entrinnen; weil du Lust zum Blut hast, sollst du dem Bluten nicht entrinnen und Römer 6, Vers 5: So wir aber samt ihm gepflanzt werden zu gleichem Tode, so werden wir auch seiner Auferstehung gleich sein.

Raubmörder Wilmes wurde „geköpft“

Auch Hinrichtungen fanden in Waldeck statt. Als letzter wurde gegen 1850 der Raubmörder Wilmes geköpft. Die Richtstätte war die Grafft, das Richtschwert befindet sich heute im Waldecker Burgmuseum. Wie damals üblich, war dieser Strafvollzug öffentlich. Von nah und fern strömte die Bevölkerung zu dem seltenen Schauspiel herbei. Der Gerichtete wurde am Abhange des Elsterberges unter einem Birnbaum verscharrt. Der Birnbaum steht heute noch und heißt im Volksmund der ,,Wilmesbirnbaum“.

Geisterspuk und übler Ulk

Bewacht wurden die Gefangenen von waldeckischen Soldaten aus Arolsen. Die Soldaten kamen gern nach Waldeck. Wohl hatten sie viele Stunden Wache zu stehen; dafür waren sie für längere Zeit dem leidigen Gamaschendienst entkommen. Auch hatten sie hier und da Gelegenheit zu kleinen Nebenverdiensten. Untergebracht waren die Soldaten im Schlosse selbst.

Das Wachestehen in finsterer Nacht war für ängstliche Gemüter eine höchst unerfreuliche Angelegenheit, und die vielen umlaufenden Spuk- und Gespenstergeschichten sorgten da für, daß manchem die Haare zu Berge standen.
Die Wachtposten hörten schließlich in jedem Heulen des Windes das Klagen armer Seelen und im Rasseln der losen Schiefer das Klappern von Gerippen der Gehenkten. Selbstverständlich halfen die lieben Kameraden nach, wann immer sie konnten.

Einmal aber war auch der „Geist“ der „Hineingefallene.“ Um besonders wirkungsvoll zu spuken, hatte sich ein Soldat nachts in das untere Gewölbe geschlichen. Dort fiel er in die tiefe Grube, in der aller Unrat der Burg zusammenfloss. Nur dadurch, daß die Grube kurz vorher entleert war, entging er dem sicheren Tode. Furchtbar „bekleckert“ kam er wieder an die Oberwelt, wo er geschrubbt und gebürstet wurde, doch der penetrante Geruch soll ihm noch lange Zeit angehaftet haben.

1866 wurde das Zuchthaus Waldeck aufgelöst. Die „schweren Fälle“ kamen nach Ziegenhain, die „leichteren“ wurden auf andere Anstalten verteilt. Das Schloß wurde Försterhaus, dann Hotel und brannte 1940 aus. Heute ist das Schloß wieder ein Schmuckstück in einer herrlichen Landschaft. Nur die Marmorsteine im holprigen Pflaster des Schlosshofes erinnern noch an die Zeit, als im Keller die Marmorsäge knirschte und der große Schleifstein sich drehte.

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