Verleger Michael Kirchschlager im Gespräch mit Kriminalrat a. D. Hans Thiers

Herr Thiers, in einigen Wochen erscheint Ihr Buch „Mordfälle im Bezirk Gera“. Sie waren lange Zeit als Leiter der Morduntersuchungskommission im Bezirk Gera tätig und kennen sich bestens aus. Viele Menschen, vornehmlich jüngere Leute, können sich unter dem Bezirk Gera nichts mehr vorstellen. Aus welchen Kreisen setzte sich der Bezirk Gera zusammen?

Der Bezirk Gera war einer der 15 Bezirke der DDR. Das Land Thüringen setzt sich heute in etwa aus den Bezirken Suhl, Erfurt und Gera zusammen. Elf Landkreise und zwei Stadtkreise (Gera-Stadt/Jena-Stadt), also insgesamt 13 Kreise bildeten den Bezirk Gera.

Das Gebäude der BDVP Gera, in der heute noch die Polizei untergebracht ist.

Was war Ihr erster Fall?

Mein richtiges erstes Tötungsverbrechen war Neustadt/Orla 1973 – Angefallen als unbekannter Mord, wo ich durch erste Untersuchungsaufgaben das kriminalistische Laufen lernte. Dabei handelte es sich um die Entführung des eigenen Kindes aus der Kinderkrippe durch die eigene Kindesmutter und die anschließende Tötung des Kindes durch die Kindesmutter. Ein grausamer Fall, den die Leserschaft in meinem Buch als zweiten Fall erwartet.

Gab es ungelöste Fälle?

In meiner Dienstzeit von 1973 bis 1990 wurde ein Tötungsverbrechen 1989/90 an einem Neugeborenen auf den Bahngleisen zwischen Saalfeld und Pößneck nicht aufgeklärt. Die Vermißtensache Michaela Wagner (Verdacht auf unbekanntes Tötungsverbrechen) und die Vermißtensache Ines Heider aus Hermsdorf (1990) konnten ebenfalls nicht aufgeklärt werden. Die vermutlichen Opfer wurden trotz intensiver polizeilicher Such- und Ermittlungsmaßnahmen nicht aufgefunden. Somit ist ihr Aufenthaltsort unbekannt! Der Verdacht eines Mordes war und ist nicht auszuschließen.

Mittlerweile hat man das Gefühl, daß die Gewalt, auch bewirkt durch Medien, Computerspiele und gesellschaftliche Veränderungen stark zugenommen hat. Das hängt mit der sogenannten Hemmschwelle zusammen. Wo sehen Sie die Hemmschwelle mittlerweile in dieser Gesellschaft stehen?

Ich glaube, daß z. B. Ursachen bereits in den Familien gesetzt werden. Es herrscht oft die Meinung, der „Stärkere“ muß sich durchsetzen. Viele glauben, daß man mit dem „Faustrecht“ alles erreichen kann. Die Achtung von Leben und Gesundheit sollte bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen im Elternhaus aber auch im Kindergarten und in der Schule mehr im Mittelpunkt einer sozialen Erziehung stehen. Eine „Wertediskussion“ zu Höflichkeit, Anstand und gegenseitiger Achtung sind notwendig, um ein geordnetes gesellschaftliches Zusammenleben langfristig zu garantieren. Die Hemmschwelle liegt bei vielen Menschen mittlerweise im unteren Drittel der Skala. Hier haben alle gesellschaftlich Verantwortlichen eine hohe Verantwortung, dies zu verändern. Eine bedeutende Rolle müssen vor allem unsere Medien in diesem Prozeß einnehmen.

Sie sprechen vom Faustrecht. Das klingt ziemlich mittelalterlich. Sieht man sich allerdings die neuen Kinohelden an, werden die Probleme tatsächlich nur noch mit der Faust oder dem Gewehr gelöst. Ist das eventuell eine gesellschaftliche Problematik? Die Helden in der DDR waren anders. Da gab es z. B. herausragende Sportler, die noch heute heldenhaft erscheinen. Ich nenne da nur Henry Maske.

Wir waren keine Helden. Es war unsere Arbeit, die wir mit Leidenschaft und kriminalistischer Hingabe umgesetzt haben. Die Vorgesetzten achteten schon darauf, daß wir nicht abgehoben hätten. Eigentlich muß sich jeder mit dafür einsetzen, daß Ordnung und Sicherheit als gesamtgesellschaftliches Anliegen verstanden und umgesetzt werden. Auch in dieser Beziehung müßten die Medien noch mehr ihrer Verantwortung gerecht werden.

Noch einmal zu den Medien, speziell zum Fernsehen. Polizeiruf 110 unterschied sich ganz enorm von den heutigen ziemlich plumpen aber auch oft überkronstruierten Tatorten und Regionalkrimis. Sind wir auch hier auf dem Holzweg?

Ich glaube nicht auf dem Holzweg, aber man braucht nicht künstlich Kriminalfälle erfinden. Wir haben genügend kriminalistischen Stoff, um damit interessante und spannende Filme zu produzieren. In den Staatsarchiven liegt ein Fundus von verfilmbarem Material, was Sie ja selbst gesehen haben. Wenn ich dann sehe, daß z. B. die Kommissarin „Furtwängler“ im Erziehungsjahr (als alleinstehende Mutter) und nicht im Dienst, und trotzdem in einem Mordfall ermittelt und sogar noch die Dienstwaffe zur Verfügung hat, kann ich das nicht ganz nachvollziehen. Außerdem war ihr Kleinkind bei den Ermittlungen dabei! Das grenzt schon an Verdummung des Filmkonsumenten. Auch der Sprachumgang zwischen ermittelnden Kriminalisten scheint mir in vielen Kriminalfilmen etwas fragwürdig. Ich denke, daß die kriminalistische Praxis etwas anders aussieht.

Es wird oftmals behauptet, in der DDR wurden Verbrechen vertuscht. In Ihrem Buch geben Sie etliche Gegenbeispiele. Wie lief das mit der Pressearbeit in der DDR?

Also, in der BDVP Gera gab es einen Presseoffizier, der in bestimmten Abständen die Presse über den Stand der volkspolizeilichen und kriminalpolizeilichen Arbeit informierte. Bei aktuellen kriminalistischen und volkspolizeilichen Vorkommnissen – Mord, schwere Brände, schwere Vehrkehrsunfälle, kriminalistische Brennpunkte, wie z. B. Laubeneinbrüche, Beschädigung von Fahrzeugen usw., gab es Presseartikel. Die Bevölkerung wurde informiert und aufgerufen, sich durch Hinweise bei der Aufklärung zu beteiligen. Im VPKA Gera gab es fast wöchentlich mit der Presse einen kriminalistischen Report zu aktuellen Ermittlungsverfahren. So lief es in Gera. Über die Pressearbeit in anderen Bezirken kann ich mir kein Urteil bilden.

Herr Thiers, ich danke Ihnen für das Gespräch. Bezüglich der Pressearbeit kann ich mich auf Kriminaloberrat a. D. Klaus Dalksi berufen, der mir eine ähnliche Herangehensweise für den Bezirk Erfurt bestätigte.

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