Haarmann – Eine neue Rezension von Janine K.

„Es wird wohl stimmen“ sagte Haarmann vor Gericht immer dann, wenn ihm ein Mord nachgewiesen wurde, ihm aber scheinbar die Erinnerung an sein Opfer abhanden gekommen war. Ob er die Tat verdrängte oder ob ihm seine Psyche ein Schnippchen schlug, wurde nie geklärt. Der Richter fällt schließlich das Todesurteil gegen ihn, beruhigt damit die Gemüter der trauernden, nach Gerechtigkeit schreienden Bevölkerung, die mindestens 27 tote Jungen beklagt. Doch war der Rechtsspruch auch zu Recht gesprochen? Für die Angehörigen, zweifellos. Für Sachverständige wie Theodor Lessing deutet jedoch alles auf beschlossene Sache hin, denn es herrscht weder Konsens über die Psyche des Angeklagten noch über die Mitschuld seines Kumpanen Grans; kritischen Berichterstattern wird nicht nur der Mund, sondern alsdann das Beisein im Gerichtssaal verboten.

Wie die Fakten zu Friedrich „Fritz“ Haarmann liegen und wie sie in den 20er-Jahren behandelt wurden, davon zeugt Theodor Lessings Bericht, welcher im Original erstmals 1925 erschien. Der Verfasser selbst ist kein Rechtsgelehrter, kein Psychologe, wohl aber ist er Philosoph und Schriftsteller mit Sinn für Gerechtigkeit. Lessing unternimmt als „Chronist des Stückes Kulturgeschichte“ eine Gratwanderung: zum einen fasst er Recherchen, Befunde und Ergebnisse zum Fall Haarmann zu einem komplexen Täterprofil zusammen und liefert dem Leser damit ein lückenloses, überzeugendes Bild eines Serienmörders. Zum anderen gelingt es ihm durch eine hintergründige Verhaltensanalyse, Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit Haarmanns aufzuwerfen. Dessen Handeln legitimiert er dadurch keineswegs, doch hält er den Leser auf Grundlage der gelieferten Fakten dazu an, die Schuldfrage zu hinterfragen.

Lessings Bericht mag zwar der eines Zeitzeugen sein, aber eines solchen, der – ohne sich über die Serie an Morden zu empören oder sie zu skandalisieren – augenscheinlich um Sachlichkeit bemüht ist. Als Ich-Erzähler nimmt er sich schon zu Beginn auffallend zurück, um dem möglichen Vorwurf eines persönlichen Erlebnisberichts keinen Raum zu geben. Auf diese Weise skizziert er klaren Wortes den Handlungsort Hannover als Umschlagplatz für Sittenlosigkeit, in die Fritz Haarmann hineingeboren wird. Dessen Lebensweg verfolgt Lessing strukturiert chronologisch – von einer Kindheit in dauerndem Zwist mit dem Vater bis hin zu seinen törichten Straftaten, die sich beinahe wie ein Schelmenstück lesen und mit Gefängnis- und Zuchthausaufenthalten enden.
Für die Mordserie zwischen 1918 und 1924 betreibt der Verfasser eine besonders intensive Spurensuche, Quellenanalyse und Zeugenbefragung, ohne die Aufmerksamkeit des Lesers überzustrapazieren. Angesichts eines verübten Mordes sorgt er für den nötigen Kontext und damit für ein schrankenloses Verstehen, während er im gleichen Atemzug subtile Kritik am Desinteresse bzw. an der Passivität zuständiger Behörden übt.
Mit Prozessbeginn gibt Lessing dezidiert und akribisch Auskunft über den Hergang und die Hintergründe eines jeden Mordes, welcher Haarmann zur Last gelegt wird – Erkenntnisse mit beklemmender Wirkung! Nun findet Lessings Unsichtbarkeit als Erzähler ein Ende – Behörden, Beamten und Obrigkeiten erfahren eine verbale Attacke.
Womit der Verfasser nicht rechnet? Mit einem schriftlichen Geständnis Haarmanns nach dem Urteilsspruch …

Während Fritz Haarmann – ein homosexueller Triebkanibalist, der jahrelang bestialisch wie ein Werwolf junge Menschen umbrachte, ja zerfleischte – die zentrale Figur des Berichtes ist, stellt sich beim Leser doch der Eindruck ein, der Verfasser Theodor Lessing sei der eigentliche Protagonist. Sein Zeitbericht hat an sozialkritischer und rechtswissenschaftlicher Brisanz nicht verloren, wenn er auch als Neudruck des Originals beim Verlag Kirchschlager erscheint. Historiker und Schriftsteller Michael Kirchschlager selbst gibt in dieser Ausgabe dem Freund kriminalistischer Lektüre ein anregendes Vorwort zur realen Person Theodor Lessing mit an die Hand – eine Kontextualisierung, die ebenso wünschenswert wie sachdienlich für eine solche Thematik ist.
Zudem überzeugt die Hardcover-Ausgabe mit Lesebändchen durch eine sorgfältige, qualitativ hochwertige Verarbeitung und eine klassische Optik. (Janine K. bei Amazon.de, 5 Sterne)

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