Der folgende Beitrag versteht sich als Leseprobe aus dem in Vorbereitung befindlichen Band von Gerd Frank: TOTMACHER 1 – Der Vampir von Nürnberg und andere unheimliche Kriminalfälle deutscher Serienmörder. Erscheinungstermin: Juni/ Juli 2014.
Am Freitag, dem 5. Mai 1972, saß der Leichenwärter Georg Wurm gegen 22.30 Uhr in seiner Dienstwohnung neben dem Krematorium am Nürnberger Westfriedhof. Er sah fern, aber das Programm sagte ihm nicht sonderlich zu. Seit Wochen schon beschäftigte ihn ein berufliches Problem und das auch noch nach Dienstschluß!
Der Vampir von Nürnberg Kuno Hofmann
Ende April hatten sich einige Angehörige Verstorbener an ihn gewandt und sich darüber beklagt, daß den Toten offensichtlich Eheringe und andere Schmuckstücke abgenommen worden seien. Das allein hatte den beleibten Mann nicht aus der Ruhe bringen können. Des öfteren schon hatten sich derlei Verwandte geirrt, waren die vermißten Gegenstände in den Wohnungen der Verstobenen wiedergefunden oder – wegen ihres hohen Wertes – von der Leichenfrau vorsorglich abgenommen und für die Hinterbliebenen aufbewahrt worden. Seit aber eines Tages die „Bierkasse“ des Friedhofspersonals aufgebrochen auf dem Tisch im Wartezimmer gestanden hatte, war Wurm klar, daß tatsächlich ein Dieb zu später Stunde durch die Hallen und Räume des Gebäudes schleichen mußte.
Der ehemalige Soldat, den die Erlebnisse des Zweiten Weltkrieges zu seinem Beruf gebracht hatten, nahm an, daß der Langfinger unter den Bediensteten der Gräberanlage zu suchen sein müsse, denn an den Türen fanden sich keine Spuren eines gewaltsamen Aufbrechens. Um nicht unnötigen Wirbel zu verursachen und die ganze Belegschaft in Verruf zu bringen, hatte Wurm den Vorfall bisher geheimgehalten und sich vorgenommen, den Täter selbst zu stellen. Mit ein paar Ohrfeigen und der sofortigen Rückgabe der gestohlenen Schmuckstücke durch den ertappten Schurken wollte er die Sache aus der Welt schaffen.
Plötzlich schrillte das Telefon. Eine Rentnerin, die gegenüber dem Osteingang des Friedhofes wohnte, hatte zwischen den Gräbern eine „dunkle Gestalt“ herumhuschen sehen. Die Frau wollte Wurm vor dem Eindringling warnen. Doch der Leichenwärter nahm den Hinweis unerschrocken zur Kenntnis und machte sich mit grimmiger Entschlossenheit allein auf den Weg. Auf Zehenspitzen begab er sich in das Büro im Hochparterre und wartete ab. Die Zeit verging zunächst, ohne daß etwas geschah.
Der ungebetene Besucher war zudem schon in der Leichenhalle. Bereits viermal hatte der Eindringling in der Vergangenheit diesen schmucklosen Saal aufgesucht. Vielelicht trachtete er tatsächlich danach, etwas zu stehlen. Doch trieb den Einbrecher auch noch etwas Anderes an die Särge. Vielleicht fand sich darin wieder einmal ein hübsches Mädchen, dessen Blut er trinken konnte!
Er mußte sich lediglich vor seinem Bruder Georg in acht nehmen. Denn der hatte vor kurzem gefragt: „Sag einmal, spinnst du, Kuno? Warum studierst du die Todesanzeigen in den Zeitungen? Warum besuchst du grundlos die Leichenhalle? Willst du dich etwa an den toten Frauen vergnügen?“ Natürlich hatte er ihm nicht geantwortet, doch er war vorsichtiger geworden. Der Intimbereich der Toten interessierte ihn nämlich nur in zweiter Linie. Er fühlte sich befreit und erregt, wenn er Leichenblut sah – so, wie damals bei dem Mädchen am Südfriedhof.
Der Einbrecher stutzte. Zwar konnte er Wurms Schritte nicht hören, denn er war taub, doch in der Leichenhalle brannte ungewohnterweise Licht. Eine innere Stimmme warnte ihn. Irgend etwas war diesmal nicht in Ordnung. Hastig wandte sich der Dieb um und stolperte die Stufen zum Ausgang hinaus. Vorsichtshalber zog er dabei seine Pistole. Sein Bruder hatte ihm – und sich selbst – eine solche Waffe vom Kaliber 7,65 mm (für 500 DM das Stück) über einen Ausländer besorgt. Der Flüchtende liebte Pistolen und Gewehre. Mit Waffen konnte man anderen Menschen seinen Willen aufzwingen. Menschen, die ihn sonst keines Blickes würdigten, weil er so klein war, nicht hören konnte und auch nicht in der Lage war zu sprechen.
Schon stand der verhinderte Dieb an der Türe, da packte ihn plötzlich jemand von hinten am Kragen. Er war entsetzt. War es ein Leichnam oder ein richtiger Mensch? Für einen Augenblick wich aus dem Ertappten alle Kraft, denn die 1,80 m große Gestalt hinter ihm mit ihrem dunklen Kinnbart sah gar nicht furchterregend aus.
Leichenwärter Georg Wurm hatte der Zorn des Gerechten gepackt. Wütend zerrte er seine Beute drei Meter weit ins diffuse Licht am Aufzug: Ein fremder Mann von kleiner Statur, Mitte 30, mit einer Brille auf der knolligen Nase, kurz: ein mickriges Kerlchen, das da zwischen seinen Fäusten zappelte. Schon hob Wurm die Hand und wollte dem Langfinger ein paar runterhauen.
Wurm erklärte später: „Da tut es plötzlich einen Knall. Ich zucke zusammen und lasse den Burschen los, geh in die Knie, wie ein geschlagener Boxer. Ich hab noch bemerkt, wie der Kerl dreckig gegrinst hat, dann ist er davongewetzt.“ Wurm griff sich an den linken Oberbauch. Warm und klebrig begann sich dort eine Blutlache auf dem Hemd abzuzeichnen. Die Wunde schmerzte nicht. So konnte der Angeschossene auf allen Vieren zurück zum Telefon ins Büro kriechen.
Mit zitternder Hand wählte Wurm die 110. Der Beamte am anderen Ende der Leitung schaltete schnell. Streifenwagen und ein Sanka rasten schon Sekunden später los in Richtung Tatort. Zu diesem Zeitpunkt kroch Wurm zur Toilette, um seine Notdurf zu verrichten. Das war ein lebensgefährliches Unternehmen, denn die Kugel hatte – wie sich später herausstellte – Dünn- und Dickdarm sowie die Blase verletzt. Wurm mußte für zwei Wochen das Bett hüten, dann wurde er wieder nach Hause entlassen. Vier Jahre später war er dennoch tot, denn er war einem Herzinfarkt erlegen. Hatten aber nicht doch die Nachwirkungen der Schußverletzungen eine Rolle gespielt?
Während sein schwerverletztes Opfer mit fast übermenschlicher Kraft noch die Polizei alarmiert hatte, radelte der rücksichtslose Schütze über Grabwege davon in Richtung Südumzäunung. Hastig warf er das Fahrrad, das er aus einem Arbeiterraum am Osteingang entwendet hatte, zu Boden, kletterte über die Holzpfähle und schwang sich auf sein rotes Mofa, das er dort im Gebüsch verborgen hatte. Während auf der gegenüberliegenden Seite mit Blaulicht die Funkstreifen vorbeirasten, fuhr der verhinderte Mörder seelenruhig nach Hause.
Kripo und Erkennungsdienst begaben sich mittlerweile an den Tatort, um erste Untersuchungen vorzunehmen. Am Morgen ging man daran, den Computer anzuzapfen: Alle bereits polizeilich bekannten Totengräber, Sittlichkeitsverbrecher, Leichenschänder und Friedhofseindringlinge mußten überprüft werden. Wenige Stunden später wurden 50 Kriminalbeamte auch aus anderen Ressorts abgestellt, um mit den Alibi-Überprüfungen zu beginnen. Viele der Betroffenen schliefen an diesem Samstagmorgen noch, machten einen Ausflug, kauften ein oder waren aus sonstigen Gründen nicht zu Hause anzutreffen. Man wartete, suchte andere Adressen auf. Der Tag verrann wie im Flug, doch man kam nicht richtig voran.
Ob der unbekannte Schütze noch einmal zuschlagen würde? Wie berechtigt eine solche Frage war, zeigte sich zur selben Stunde an einem Waldrand, etwa 1,3 km von der Ortschaft Lindelburg im Landkreis Lauf/Pegnitz, östlich von Nürnberg. Dort parkte ein hellgrauer Mercedes. In ihm schlief – nach einem Picknick – das Liebespaar Markus Adler (24) und Ruth Lissy (19). Der junge Mann leitete mit seiner Mutter eine Spedition in Oberhausen, die junge Frau war Verkäuferin in Nürnberg. 1969 hatte sich das Paar während eines Jugoslawienurlaubs kennen- und liebengelernt. Seitdem waren beide unzertrennlich. Sooft Markus Zeit fand, fuhr er mit seinem flotten Wagen nach Nürnberg zu seiner hübschen Verlobten.
Auch am 6. Mai war er wieder morgens vor Lissys elterlicher Wohnung in der Peterstraße vorgefahren. Zwei Stunden hatten die beiden bei Ruths Mutter verbracht, dann war man mit dem Mercedes zu einem unbeschwerten Samstagsausflug losgebraust. Wo sich die jungen Leute bis gegen 18 Uhr überall aufgehalten hatten, ließ sich nie mehr klären. Erst die Zeit danach und das sich allmählich anbahnende Drama konnten später von der Landeskriminalpolizeiinspektion Schwabach rekonstruiert werden.
Um die Zeit der Abenddämmerung näherte sich der nächtliche Schütze vom Westfriedhof dem geparkten Mercedes. Seit neun Uhr morgens war er mit seinem Mofa unterwegs gewesen. Er hatte, wie schon so oft, die Wälder im Nürnberger Osten durchstreift und dort Schießübungen veranstaltet. Zwar hörte er das Krachen der Waffe nicht, wenn aber die Projektile runde Löcher in Verkehrszeichen stanzten oder Holzstücke aus Bäumen fetzten, machte ihm das großen Spaß. Ebenso das Schießen in einen Sprung Rehe, auf den er zufällig traf.
Hin und wieder war der kleine Mann mit dem schwarzen Pullover und der braunen Hose auch in Gaststätten eingekehrt, hatte ein Bier getrunken und deftig Fränkisches gegessen. Doch sein Ausflug hatte noch andere Gründe, als nur Schießübungen zu veranstalten. Er wollte Blut sehen, Blut, das schön und stark machen sollte, ihm vielleicht half, hören und sprechen zu können. Vor allem aber sollte es ihm zur Macht über Frauen verhelfen. Nur im Bordell, in Pornoheften und Filmen hatte er bisher das kennengelernt, was seine Bekannten unter „Liebe machen“ verstanden. Die Dirnen hatten ihm gegenüber nie Zuneigung gezeigt, sondern immer nur rasch „das Geschäft“ erledigt. In ihren Mienen hatte der Ausgestoßene immer nur Ekel gelesen.
Aber er wollte auch geliebt werden, zärtlich und auf Dauer, endlich vergessen, daß er für das andere Geschlecht bisher nur ein Mensch zweiter Klasse gewesen war. Schon als Kind hatte ihn sein trunksüchtiger und geisteskranker Vater immer nur windelweich geprügelt. Seine Mutter behauptete sogar, aufgrund dieser Schläge seien er und Georg taubstumm geworden (ein Arzt hatte dagegen in den 30er Jahren die Krankheit als Folge einer Mittelohrentzündung der beiden Buben diagnostiziert).
Bis auf fünf Meter schlich sich Hofmann an den abgestellten Wagen heran. Jetzt sah er die beiden jungen Leute darin liegen. Sie schliefen, Adler auf dem Vordersitz, seine Geliebte im Fond. Der heimliche Beobachter der Szene war vorsichtig. Er drehte am Gasgriff des Mofas, das er abgestellt hatte. Der Motor heulte auf, doch die beiden im Auto reagierten nicht. Rasch ging er auf das Fahrzeug zu und öffnete die linke Vordertüre. Adler erwachte, sah den Fremden überrascht an. Da krachte auch schon der erste Schuß. Das Projektil drang in den Kopf des Spediteurs oberhalb des rechten Auges. Er war sofort tot.
Entsetzt fuhr das schwarzhaarige Mädchen hoch, blickte für einen Lidschlag in die Augen ihres Mörders. Dieser feuerte einen weiteren Schuß ab. Das Geschoß durchbohrte ihre linke Brust. Auch sie starb in wenigen Sekunden. Der unbekannte Unhold wollte sichergehen, beugte sich in den Wagen und jagte beiden Toten nochmals eine Kugel in den Kopf. Dann brach sein unseliger Trieb durch, der ihm in Illustrierten und der Presse bald den Beinamen „Vampir“ einbringen sollte.
Er kletterte in das Auto und saugte zunächst aus den Wunden des Mannes das sickernde Blut, anschließend wechselte er auf den Rücksitz über. Dort zerriß er den Pullover seines weiblichen Opfers, schob den Büstenhalter nach oben und leckte auch aus dieser Wunde das Blut. Gut zehn Minuten währte die teuflische Orgie, dann fühlte er sich erleichtert und stark. So, wie es ihm die Okkultistengruppe in Hamburg und der Autor des Buches „Die schwarze Magie“, das er 1966 bei einem Altwarenhändler aufgestöbert hatte, versichert hatten. So, wie er sich schon früher gefühlt hatte, als er an natürlich Verstorbenen die Blutmahlzeit der Satansdiener zelebriert hatte. Ganz Deutschland hatte er dabei durchstreift.
Einmal, so erzählte er später der Kripo, habe er in Treuchtlingen in einer Aussegnungshalle das Herz eines Mannes herausgeschnitten und eingehend betrachtet, ein anderes Mal in Pleinfeld die Bauchhöhle einer Frau geöffnet und sich die Gedärme besehen. Noch während der Mörder, sexuell hochgradig erregt, sich am Tatort aufhielt, bemerkte er, daß er aus einiger Entfernung beobachtet wurde. Hastig zerrte er dem toten Mädchen den Verlobungsring vom Finger, durchwühlte ihre Handtasche und nahm aus dem Handschuhfach des Pkw die Geldbörse von Markus Adler an sich. Dann floh er.
Der Zeuge, ein Jäger, rannte zum Wagen und blickte hinein. Doch er erkannte sofort, daß hier jede Hilfe zu spät kam. Deshalb feuerte er seine Flinte ab, in der Hoffnung, daß Spaziergänger oder Bauern herbeeilen würden und am Tatort blieben, während er die Polizei informieren wollte. Doch es zeigte sich keine Reaktion. Der Waidmann mußte selbst die 1,5 km bis zur nächsten Telefonzelle zurücklegen.
Inzwischen brauste der Mörder am alten Kanal entlang in Richtung Nürnberg. Am Sportplatz der „Sparta Noris“ stoppte er kurz, durchwühlte die Börse und nahm alle Banknoten sowie die Münzen, insgesamt 168 DM, heraus. Dann warf er das Beutestück und die darin steckenden Papiere achtlos ins Gras. Zu Hause angekommen, suchte der Taubstumme nach einem Versteck für die Waffe, denn er war schlau und wußte, daß die Kripo vermutlich bei ihm vorsprechen würde. Es gab nicht allzu viele Besitzer von roten Mofas. Der Leichenwärter und der Jäger hatten außerdem sein Gesicht gesehen. Schließlich schraubte er die Pistole in einer Nische der Waschmaschine ein. Dann nahm er vom Mofa die Tankattrappe ab, die er immer aufsetzte, wenn er etwas Ungesetzliches unternehmen wollte und damit rechnen mußte, beobachtet zu werden.
Mittlerweile lief die Fahndung nach dem Doppelmörder auf Hochtouren. Ziemlich rasch stellte man fest, daß die Waffe vom Westfriedhof mit der von Lindelburg identisch war. Der Chef der Mordkommission rief erregt: „Unser Mann muß ein Verrückter sein, Männer! Innerhalb von 21 Stunden schießt er drei Leute zusammen. Wir müssen schnell handeln, sonst gibt es noch mehr Tote!“
In Zusammenarbeit mit der Kripo Schwabach wurde die „Soko Lissy“ gebildet, die zunächst einen Fahndungsaufruf an die Bevölkerung erließ: „Kleiner Mann mit Brille gesucht, fährt rotes Mofa. Belohnung: 6000 DM!“ Überraschend schnell meldete sich das Polizeirevier Süd. Ein „gewisser Kurz“, so erzählte der Wachleiter, habe vor wenigen Minuten mitgeteilt, sein Kollege Kuno Hofmann, auf den die Beschreibung in der Zeitung genau passen würde, habe überraschend in aller Frühe gekündigt. Eben dieser Hofmann würde ein rotes Mofa fahren und habe gegenüber Kurz erklärt, er wolle „rauf in Richtung Hamburg“.
Binnen weniger Minuten rasten vier Streifenwagen zu der betreffenden Firma. Sechs Uniformierte sperrten das Gelände ab, zwei eilten in den Innenhof. Hofmann hatte zwar das Firmengelände verlassen und sich beim Herannahen der Polizei hinter einem Lastwagen versteckt, doch die Polizisten stöberten ihn schnell auf. Er wollte davonlaufen, daber schon schlossen sich die Handschellen um seine Gelenke.
In der Firma war man entsetzt. „Der nette taubstumme Kuno, der für einen knappen Tausender im Monat Kisten schleppte, soll ein Schwerverbrecher sein?“, hieß es. „Das gibt’s doch nicht, das muß ein Irrtum sein!“ Man stellte ihm das beste Zeugnis aus. Während Hofmanns Arbeitskollegen noch über die Polizeiaktion rätselten, sah Emmeram Daucher, der Chef der Mordkommission, der Begegnung mit dem Unbekannten entgegen. Er machte sich Sorgen, und nicht zu Unrecht.
Bei dem Verdächtigen handelte es sich um einen Taubstummen, um einen „Gehörlosen“, wie man neuerdings sagt. Damit ließ sich Dauchers beste Waffe beim Verhör – das persönliche Gespräch – nicht anwenden. Immer mußte zuerst ein Dolmetscher langwierig Fragen, Vorschläge und anderes mit Mimik und Handbewegungen in die geräuschlose Welt des mutmaßlichen Doppelmörders übertragen. So ließ sich bestimmt kein Vertrauen schaffen! Und ohne Vertrauen würde ein Geständnis immer Glückssache sein. Daucher wartete mit der ersten Vernehmung bis 18 Uhr. Bis dahin wurden Beweise gesammelt. Zu diesem Zweck war ein Trupp von Soko-Spezialisten ausgerückt, um in Hofmanns Wohnung Haussuchung zu halten. Man fand dort auch das rote Mofa und den Verlobungsring der Ruth Lissy. Aber würde es auch gelingen, die Tatwaffe aufzustöbern?
Dann wurde der mutmaßliche Todesschütze in Dauchers Zimmer geführt. Der Chef versuchte es zunächst mit der „Brechstange“. Er startete sofort ein richtiges Verhör mit Frage und Antwort. Beides wurde protokolliert. Der kleine Mann in dem grauen Anzug gab sich verdattert, begann offensichtlich zu lügen. 50 endlose Minuten währte diese Vernehmung, während der sich Hofmann immer mehr in Lügen verstrickte, phasenweise völlig konfus antwortete.
Wieder schrillte das Telefon. Die Fahnder hatten einen Schlüsselbund aus dem Krematorium im Westfriedhof entdeckt. Zudem hatten sich auch einige Gegenstände gefunden, die, nach Aussagen des völlig überraschten Bruders Georg, aus gemeinsamen Einbrüchen stammten. Die Pistole, Kaliber 7,65 mm, fehlte jedoch noch immer. Der Chef der Mordkommission legte enttäuscht auf; es hieß, weiter abwarten und fragen.
Ein heller Kopf nahm sich gegen 19 Uhr auch noch die Waschmaschine in dem Einfamilienhaus in Maiach vor. Stück für Stück schraubte er das Gerät auseinander. Dann hielt der Beamte mit einem Male eine „Ceska Vzor“ vom gesuchten Kaliber in den Händen. Daucher mußte sofort davon erfahren.
Der Soko-Chef hatte zu diesem Zeitpunkt die offizielle Befragung bereits abgebrochen, sagte nun aber Hofmann die Neuigkeit direkt ins Gesicht. Der Schock saß. In der Miene des Hilfsarbeiters zuckte es, seine Lippen begannen zu zittern. Dann begann Hofmann zögernd mit den Händen zu sprechen. Zwanzig Minuten später lag Daucher das ersehnte Geständnis vor. Das heißt, Hofmann hatte den Doppelmord und den Mordversuch zugegeben.
Auf die Beamten der „Soko Lissy“ wartete in den nächsten Tagen und Wochen viel Arbeit. Hofmann mußte nicht nur zu einer Reihe ungeklärter Verbrechen befragt werden, die seine Handschrift zu tragen schienen. Es galt auch für die Sachverständigen und das Gericht, aus einem Berg von Akten Kuno Hofmanns Lebenslauf zu rekonstruieren.
Dieser Lebenslauf war erschütternd, erweckte sogar bei Daucher Mitleid. Der Vater des Doppelmörders, ein Trunkenbold und Rohling, hatte schon als Jugendlicher an einem hinterhältigen Giftmord mitgewirkt. Kuno und Georg, die Söhne aus der Ehe mit einem rechtschaffenen Arbeitermädchen, sah der Gewohnheitsverbrecher nur jedesmal kurz zwischen langen Aufenthalten in Gefängnissen und Konzentrationslagern. In dieser Zeit mißhandelte er die beiden Jungen, aber auch deren Mutter, brutal und in steter Regelmäßigkeit. Zudem verging er sich an einem kleinen Mädchen. Nach diesem Vorfall hatte seine Frau genug. Sie zeigte ihn an und ließ sich 1940 scheiden.
Nach acht Klassen Gehörlosenschule ging Hofmann in eine Schuhmacherlehre, die er aber in einem Anfall von Jähzorn bald wieder abbrach. Auf einem landwirtschaftlichen Gut der Stadt Nürnberg, wo er sich daraufhin verdingte, galt er als fleißiger Arbeiter. Er wurde jedoch entlassen, als er mehr Lohn verlangte. Seine aktenkundige kriminelle Laufbahn begann mit einem Fahrraddiebstahl 1949. Seit den 50er Jahren schlug er sich – sofern er sich in Freiheit befand – mit Gelegenheitsjobs durch. Ab 1956 versuchten die Gerichte, Kuno durch Unterbringung in Heil- und Pflegeanstalten zu „kurieren“. Wie bei seinen Lehrern und Ausbildern konnten sich auch die dortigen Ärzte kein endgültiges Bild über das Wesen des verschlossenen Menschen zeichnen. Manchmal gab er sich willig und umgänglich, ein anderes Mal wieder reagierte er verschlagen und renitent. Als Hofmann die laschen Sicherheitsmaßnahmen in den Heimen erkannte, nutzte er vor Gericht immer öfter sein Gebrechen aus.
Bis zu seiner Verhaftung im Jahre 1972 hatte Kuno Hofmann insgesamt neun Jahre in Zuchthäusern und weitere neun Jahre in Heil- und Pflegeanstalten verbracht. Aus letzteren nahm er insgesamt zwölfmal Reißaus. Nachdem er in einer Anstalt den Schlüsselbund eines Pflegers gestohlen hatte, verschaffte er sich auf einer hausinternen Diebestour auch Zutritt zu einem Kühlraum, in dem die Leichen frisch Verstorbener aufgebahrt lagen. Hier begann er mit den grausigen „Studien“ und Riten, von denen er in dem Buch „Die Schwarze Magie“ gelesen hatte und die ihm so imponiert hatten. Manipulationen an Toten und eine Vielzahl weiterer Straftaten – von Brandstiftung bis hin zu Einbrüchen – gestand Hofmann aber erst Wochen nach seiner Festnahme.
Zunächst erwies sich der Vampir von Nürnberg bei den Befragungen verstockt, log dreist und gab nur zu, was man ihm beweisen konnte. Dann verlegte sich der Doppelmörder auf eine andere Taktik. Einmal zerschlug er in seiner Zelle das Mobiliar, dann bezeichnete er sich in Briefen an die Mordkommission als zwölffachen Frauenmörder von Augsburg und den Mann, dessentwegen Vera Brühne unschuldig im Gefängnis säße. Später wollte er auf einmal der Neffe der britischen Königin sein, verlangte Blut von jungen Frauen, drohte einem Juristen, er werde ihm den Kopf abschneiden und ihn in einen Hundenapf werfen.
Hofmann schrieb auch an den Papst, verlangte seine Tatwaffe zruück, mit deren Hilfe er die Toten wieder lebendig machen wollte. Schließlich äußerte er einen ungewöhnlichen Wunsch: „Bitte, gebt mir genug Schlaftabletten, damit ich langsam zu Mutti hinüberdämmern kann …“
So platzte der erste Prozeß bereits nach drei Tagen. Die psychiatrischen Sachverständigen stritten sich über die Frage der Verhandlungsfähigkeit. Der Richter setzte die Verhandlung deshalb zunächst für zwei Jahre aus. In dieser Zeit wurde Hofmann in einer Hamburger Spezialklinik und in der Psychiatrie der Justizvollzugsanstalt Straubing behutsam von seiner Haft- und Verhandlungspsychose befreit. Als er am 19. Juli 1976 erneut den Gerichtssaal betrat, gab er sich wieder „normal“.
Die Schüsse vom Westfriedhof und im Wald bei Lindelburg deklarierte er nun als reine Notwehrakte. So hätte ihn zum Beispiel Markus Adler angeblich bei Schießübungen überrascht und ihm die Waffe aus der Hand geschlagen. Wieder gerieten sich die Sachverständigen in die Haare. War dieser Rechtsbrecher noch in der Kategorie des „geistig Gesunden“ anzusiedeln? Unter Vorsitz des Richters Egon Schiller fällte schließlich das Schwurgericht nach acht Tagen nervenaufreibender Verhandlung die Entscheidung. Es schickte Hofmann ins Gefängnis. Er bekam zweimal lebenslang für den Mord an dem Brautpaar, zusätzlich zehn Jahre für die Schüsse am Westfriedhof. In beiden Fällen war die Aussage des Angeklagten mit entscheidend, er habe in Notwehr gehandelt. Kein völlig Unzurechnungsfähiger hätte sich bei der Begehungsweise dieser Taten auf Notwehr hinausgeredet.
Im Jahr 2004 hatte er seine Strafe abgebüßt und wurde aus der Haft entlassen. Gerüchten zufolge soll der „Vampir von Nürnberg“ heute anonym in dieser Stadt leben und um 2008 herum – als 75jähriger alter Mann – damit begonnen haben, seine grausigen Memoiren zu schreiben …