Es war ein Nachmittag, etwa gegen drei Uhr. Ich befand mich in meinem Büro und hatte die Angelegenheiten derjenigen Gefangenen zu bearbeiten, denen infolge guter Führung ein Strafaufschub für ihre Restschuld bewilligt wird. Die Januarsonne schickte ihre letzten Strahlen durchs Fenster. Die friedliche Stimmung ließ mich nicht ahnen, daß ein gewaltsamer Ausbruchsversuch der Sträflinge im Gange war. Ich erfuhr es erst dadurch, als drei zu allem entschlossene Gefangene in mein Amtszimmer im Verwaltungsgebäude stürmten, mehrere Sergeanten der Gefängniswache und einige Angestellte vor sich her treibend. Sie befahlen mir barsch, aufzustehen und mich mit dem Gesicht gegen die Wand zu stellen.
Ich war völlig unbewaffnet und hatte keine andere Wahl als zu gehorchen. Ich bin fest überzeugt, daß mein prompter Gehorsam allein mir das Leben gerettet hat, denn die Leute waren entschlossen Blut zu vergießen und haben es dann einen Augenblick später auch kaltblütig getan.
Als ich mit dem Rücken gegen das Zimmer an der Wand stand, riß einer der Zuchthäusler das Verbindungskabel des Telephons auf meinem Tisch ab und schnürte mir damit die Hände auf den Rücken. Außer mir hatten sich im Zimmer befunden: eine Stenotypistin, Fräulein Foster, der Sergeant vom Dienst und Stellvertreter des Gefängnisinspektors, Oats, der Richter Thomas aus Muskogee, Oklahoma, ein ehemaliges Mitglied des Senats der Vereinigten Staaten, Sergeant Godfrey, und etwa acht oder zehn Sträflinge, sogenannte „Verläßliche“. Es war Vorschrift im Zuchthaus, daß die Beamten im Verwahrungsdienst unbewaffnet zu sein hatten. Sergeant Oats hatte jedoch, was uns unbekannt war, seit einiger Zeit schon einen Revolver kleineren Modells bei sich getragen und verfügte infolgedessen über eine Waffe. Mit dieser einzigen Ausnahme waren wir ganz und gar der Willkür der drei, zu allem entschlossenen Sträflinge ausgeliefert. Zu diesen drei Leuten gehörte „China“ Reid, der bereits zum zweitenmal bei uns im Zuchthaus saß. Später wurde festgestellt, daß er dieses zweite Verbrechen anscheinend nur begangen hatte, um wieder ins Zuchthaus und so in die Nähe von Sergeant Oats zu kommen, auf den er einen unglaublichen Haß hatte und den er bei irgendeiner Gelegenheit zu töten hoffte. Der zweite Sträfling war ein Charles Kuntz, der eine Zuchthausstrafe wegen Bankraubes abzusitzen hatte. Er war der Führer der Revolte. Tom Lane, der dritte, war derjenige, der noch am ehesten der Vernunft zugänglich gewesen war.
Kuntz hielt einen Revolver in der Hand, als er mein Büro betrat. Wie es gelungen war, die Schußwaffe in das Zuchthaus zu schmuggeln, ist nie ermittelt worden. Die beiden anderen Sträflinge waren unbewaffnet.
Daß es ihnen überhaupt gelang, Zutritt zum Verwaltungsgebäude zu erlangen, hatte folgende Vorgeschichte: Sie hatten eine dienstliche Anweisung auf Aushändigung gewisser Materialien gefälscht und sich mit dieser Anweisung an der Tür des Zellengefängnisses gemeldet. Als der nichtsahnende Wächter die Tür öffnete, um dem Gefangenen, der den Bestellzettel abgegeben hatte, die angeforderten Materialien zu übergeben, sah er sich drei Verbrechern gegenüber, die ihn aufforderten, die Hände hochzuheben. Er weigerte sich, dem Befehl nachzukommen, worauf sie sofort auf ihn feuerten. Er verlor durch den Schuß das Ohr. Alle drei Sträflinge stürzten sich auf ihn, überwältigten ihn, nahmen ihm die Schlüssel ab, verließen das Zellenhaus und schlossen die Tür hinter sich wieder zu.
Unter den Schlüsseln befand sich einer, der eine der Türen nach der Außenwelt öffnete. Dieser Tür war aber nur zu erreichen, wenn man die sämtlichen Büroräume im Verwaltungsgebäude passierte. Aus diesem Grunde hatten die Verbrecher alles, was ihnen in den Weg lief, in mein Büro zusammengetrieben, das der Tür am nächsten lag. Auf dem Wege durch den Korridor hatten sie blindlings auf einige „Verläßliche“ gefeuert, die unvorsichtigerweise aus dem verschiedenen Türen geblickt hatten, um zu sehen, was im Korridor vorging. Einer dieser aufs Geratewohl gefeuerten Schüsse traf den Photografen und Bertillon-Fachmann des Gefängnisses, H. Drover, und löste bei ihm anscheinend einen Anfall geistiger Verwirrung aus, denn er flüchtete in den Tresorraum, in dem die Archive des Gefängnisses untergebracht sind, warf die Tür hinter sich ins Schloß und wurde erst später tot dort aufgefunden.
Er war das erste der sieben Opfer, die dieser Tag kosten sollte.
Ich war, soviel ich mich erinnern kann, der einzige der Beamten, der mit dem Gesicht zur Wand stand. Die anderen standen wie und wo es ihnen beliebte, aber alle hielten die Hände in die Höhe.
Sergeant Godfrey, der eine günstige Gelegenheit zu erspähen glaubte, warf sich plötzlich auf Kuntz, den Führer der Ausbrecher, und versuchte ihm die Pistole zu entreißen. Während des Ringens gelang es Kuntz, die Pistole abzudrücken und der Beamte stürzte wie ein Sack zu Boden.
Richter Thomas hatte mich aufgesucht, um einen Gefangenen zu sprechen, dessen vorläufige Entlassung in die Wege geleitet werden sollte. Der Richter hatte während der bisherigen Vorgänge zur Seite gestanden, ohne belästigt zu werden. Anscheinend glaubte er, daß seine Persönlichkeit und seine amtliche Stellung hinreichen werde, die Verbrecher zur Besinnung zu bringen. Jedenfalls redete er sie in der formellen und feierlichen Weise an, wie sie im Gerichtssaal gebräuchlich ist, und forderte sie auf, die Waffe abzuliefern und sich zu ergeben. Einen Augenblick schien es, als ob er Erfolg haben werde. Alle hörten ihn schweigend an. Dann plötzlich knallte in diese oratorische Meisterleistung – denn es war tatsächlich eine oratorische Meisterleistung – ein Schuß, Kuntz hatte abgedrückt und der Richter sank tot zu Boden. Das war schon das dritte Menschenleben, das dieser Tag gekostet hatte.
In der Zwischenzeit hatte sich Sergeant Oats unbemerkt aus dem Zimmer geschlichen und rief durch die Stäbe der äußeren Gittertür nach Schießwaffen. Der einzige Schlüssel zu dieser Tür befand sich in den Händen der Ausbrecher, so daß es ihm unmöglich war, das Gebäude zu verlassen. Wir waren hilflos mit unseren Feinden zusammen eingesperrt, wie die Märtyrer alter Zeiten in die Käfige wilder Tiere gesperrt wurden.
Als der Richter fiel, warf sich meine Stenotypistin, Fräulein Foster, auf den Mörder und versuchte ihn zu entwaffnen. Er schoß sie durch die Hüfte und sie gab den hoffnungslosen Kampf auf.
Während dieser Vorgänge mußte ich müßig dabeistehen, da mir die Hände mit der Telephonschnur auf dem Rücken gebunden waren und ich mußte ohnmächtig mit ansehen, was sich vor meinen Augen abspielte. Längst hatte ich, ohne selbst zu wissen was ich tat, mein Gesicht dem Zimmer zugekehrt. Ich weiß nicht, ob es die Ausbrecher überhaupt bemerkten, jedenfalls beachteten sie es nicht, in der Gewißheit, daß ich ja vollständig hilflos war. Da ich die Gnadensachen zu bearbeiten hatte, war ich selbstverständlich einer der beliebtesten Beamten im Gefängnis. Wahrscheinlich habe ich es diesem Umstand zu verdanken, daß sie mich nicht ohne weiteres kaltblütig niedergeschossen haben.
Dem Sergeanten Oats hatte man inzwischen durch die Stäbe der äußeren Tür Revolver hereingereicht. Als es schon zu spät war, entdeckte er, daß sie, entweder böswillig oder aus Versehen, nicht geladen waren. Er lief noch einmal nach der Tür und rief nach einem Stutzen. (Eine kurze, mit Rehposten geladene Schrotflinte, die große Streuung und deshalb eine Art Schrapnellwirkung hat, ist eine in Amerika oft angewendete Polizeiwaffe. D. Übers.) Dann rannte er in mein Büro zurück und begann mit seinem kleinen Taschenrevolver auf Kuntz zu feuern. Kuntz wurde viermal getroffen, aber infolge des kleinen Kalibers der Waffe hatte keine dieser Verwundungen besondere Wirkung. Zum drittenmal rannte Oats jetzt an die Außentür und kam mit dem Stutzen zurück. Er legte auf Kuntz an und forderte ihn auf, die Hände hochzuheben. Statt aller Antwort sprang Kuntz hinter mich und schob mich auf Oats zu.
Ich sah mich zwischen zwei Gegnern, die beide zum Äußersten entschlossen waren und war vollständig hilflos. Kuntz flog vor Erregung und ich war vollkommen darauf gefaßt, von ihm blindlings erschossen zu werden. Ich hatte in der letzten Zeit ziemlich viel psychologische Studien getrieben, deshalb sagte ich zu ihm:
„Hör´n Sie mal, Kuntz, erschießen Sie mich ja nicht aus Versehen!“
Die Bemerkung hatte die erhoffte Wirkung. Kuntz, der in knapp fünf Minuten bereits drei Menschenleben auf dem Gewissen hatte, hätte mich wohl ebenso kaltblütig niedergeschossen wie die anderen, wenn es darauf angekommen wäre. Nun aber hatte ich ihm den Gedanken eingeimpft, daß er mich nicht „aus Versehen“ erschießen solle, und ich glaube, ich habe mir auf diese Art das Leben gerettet. Gleich darauf schoß er auf Oats. Es fiel nur ein einziger Schuß – plötzlich sah ich einen Blutstrahl von der Dicke eines Bleistiftes aus der linken Brustseite des Sergeanten herausschießen. Langsam sackte Oats zusammen, fiel auf den Rücken, wie jemand sich zum Schlaf ins Gras streckt.
Ich stand und starrte wie hypnotisiert auf den hin und herschwankenden Gewehrlauf in den Händen des Sterbenden. Wird er, so fragte ich mich angsterfüllt, noch im letzten Augenblick klar genug denken, um nicht auf den Abzug zu drücken? Ich fragte mich, ob ich noch den Feuerstrahl aus der Mündung sehen würde, ehe ich spürte, wie der Geschoßhagel mein Inneres zerriß.
Und der Schuß ging los – beide Läufe auf einmal – aber Gott sei Dank fuhr die Ladung ins Blaue und riß die ganze Seitenwand aus dem Aktengestell. Ich muß bekennen, daß ich mich nicht mehr erinnern kann, ob ich den Feuerstrahl aus der Mündung zucken sah.
Es waren jetzt schon vier Tote unter unserem Dach. Alle „Verläßlichen“ hatten sich in entlegene Teile des Gebäudes geflüchtet und hielten sich versteckt.
Fräulein Foster, die verwundet war, und ich mit meinen auf den Rücken gebundenen Händen, entsetzte Zeugen dieser blutigen Szene, standen hilflos den drei Desperados gegenüber. Ich fragte mich, was man wohl mit uns beiden vorhaben könne. Aber die Verbrecher hatten sich bereits einen bestimmten Plan zurechtgelegt. Kuntz verlor viel Blut – er war ja viermal getroffen worden – und da er schwächer und schwächer wurde, mußten die Ausbrecher sich beeilen.
Sie schlossen die Außentür auf und marschierten langsam, Fräulein Foster und mich vor sich herschiebend, die breiten steinernen Stufen vor dem Gebäude hinunter. Hoch droben, auf eigens errichteten Auslugplattformen, befanden sich schwer bewaffnete Wächter, und andere schwerbewaffnete Wächter patrouillierten auf den Zinnen der äußeren Umfassungsmauer. Aber wir bildeten eine dicht zusammengedrängte Gruppe und die Wächter konnten nicht feuern, ohne mich oder Fräulein Foster zu treffen. Mir ist es übrigens sehr zweifelhaft, ob diese Posten im ersten Augenblick überhaupt begriffen, was vorging.
Dann begann die große Dampfpfeife – das übliche Alarmsignal bei Ausbrüchen – ihr wildes Geheul. Ich habe nie erfahren können, wer sie eigentlich in Betrieb gesetzt hat.
Langsam, langsam stiegen wir die Stufen hinunter, bis wir den Beobachtungsplattformen gegenüber angekommen waren. Hier wurde halt gemacht. Man setzt mir eine Pistole an die Schläfe und befahl mir, die Wächter da oben zu veranlassen, ihre Posten zu verlassen.
Ich hatte schon einige Erfahrungen als Redner gesammelt, aber ich glaube, niemals war eine meiner Reden so leidenschaftlich und rührend wie die Ansprache, die ich damals an die Wächter da oben auf ihrer hohen Warte hielt. Da, auf dem Rasen des Gefängnisvorhofes stehend, die Hände auf dem Rücken gebunden, habe ich eine Gipfelhöhe der Beredsamkeit erreicht, die zu erklimmen Menschen sonst selten beschieden ist. Dem Anschein nach war es mir nicht um mehr zu tun, als daß diese Wächter von den Türmen herunter kamen und ihre Dienstwaffen oben liegen ließen, in Wirklichkeit plädierte ich glühend für mein eigenes liebes Leben – und wenn das Leben eines Menschen von seiner Leistungsfähigkeit als Redner abhängt, so ist er fähig, Steine zu erweichen.
Die Wächter verließen tatsächlich ihre Posten … und wir marschierten weiter.
Wir stießen auf einen Ackergaul, der an einen Pfahl gebunden war. Das Pferd war vor einen winzigen leichten Einspänner geschirrt. Die Sträflinge pferchten sich hinein und zogen Fräulein Foster und mich auf ihre Knie.
Das Gefährt setzte sich in Bewegung. Wir rollten den Weg entlang, der hinter den Gefängnisgebäuden herum zu dem großen Gutshof der Gefängnisverwaltung führte.
Wir hatten knapp einen Kilometer zurückgelegt, da war schon der ganze, der Gefängnisverwaltung unterstehende Sperrbezirk im Alarmzustand. Rings um uns knallten Gewehre und die Kugeln pfiffen dicht an uns vorbei.
Dann tauchte vor uns auf dem Weg eine Gestalt auf, die mit einem mächtigen Winchester-Mehrladegewehr bewaffnet war. Die Gestalt kniete nieder und gleich darauf krachte Schuß um Schuß.
Die Verbrecher deckten sich hinter Fräulein Foster und mir und erwiderten das Feuer. Der Wächter mit dem Gewehr wußte nur, daß Sträflinge ausgebrochen waren. Er hielt alle Insassen des Wagens für entflohene Zuchthäusler und feuerte wahllos und auf gut Glück auf uns alle.
Langsam rollte das Gefährt weiter. Trotz der Revolverschüsse, mit denen man ihm antwortete, überschüttete er uns mit einem wahren Kugelregen. Mehr als einmal wurden die Sträflinge von Geschossen getroffen, und nur einer seltsamen Laune des Schicksals verdankten meine Sekretärin und ich, daß uns kein Haar gekrümmt wurde.
Einer nach dem anderen sanken die Zuchthäusler, vom Blutverlust geschwächt, auf den Boden des Wagens.
Fräulein Foster sprang auf den Weg hinaus. Mich hatte während der ganzen Fahrt einer der Sträflinge fest um den Hals gepackt. Ich spürte, wie sein Arm plötzlich schlaff wurde und der Körper nach vorn sank, und warf mich auf gut Glück aus dem Wagen. Der Wächter, der mich für einen der Entsprungenen hielt, begann nun auf mich zu feuern. Ich blieb bewegungslos liegen. Da hielt er mich für tot und kam zu mir heran. Als er mich erkannte, fiel er fast in Ohnmacht.
Er lief eilig dem Wagen nach, packte das Pferd bei den Zügeln und brachte das Gefährt zurück. Die drei Sträflinge, denen es gelungen war, den Mauern des Zuchthauses zu entfliehen, hatten eine andere Freiheit gefunden, als die, die sie suchten – die des Todes. In dem Wagen lagen drei Leichen. Der „Ausbruch“ war beendet.
Sieben Menschen hatten im Laufe einer halben Stunde ihr Leben lassen müssen. Was mich gerettet hat, weiß ich nicht. Aber eines weiß ich: Ich möchte nicht noch einmal gezwungen sein, dasselbe durchzumachen, was ich an diesem Tage erleben mußte!