Wie schon erwähnt, von meinen fünfzehn Brüdern lebt nunmehr nur noch Einer: der Scharfrichter in Esseg. Da ich mit diesem Kapitel die Schicksale meiner Familie beschließe, um sodann auf meine eigenen Erlebnisse überzugehen, will ich an dieser Stelle jenes interessanten Falles gedenken, bei dem dieser letzterwähnte Bruder zum ersten Mal – im Alter von vierzehn Jahren, im Beisein unseres Vaters – das Todesurteil vollstreckte.
Im Jahre 1850 gab`s im Orte Sommerein bei Graz eine ungeheure Aufregung. Drei Personen, der Katechet, ein Lehrer und ein Schuhmacher, waren binnen wenigen Tagen verschwunden, spurlos, als hätte sie die Erde verschlungen. Die Betreffenden hatten sich auf kurze Zeit vom Hause entfernt, einen Spaziergang, einen Geschäftsweg gemacht und waren nicht wiedergekehrt. Die Sommereiner fieberten vor Angst. Das mysteriöse Verschwinden der Drei war allerorten das unablässig behandelte Gesprächsthema. Kein Mensch getraute sich ohne Begleitung in die Umgebung des Ortes, denn als hätte ein Blutgeruch die Luft erfüllt, so stand es, ohne daß für die Annahme ein positiver Anhaltspunkt vorhanden gewesen wäre, überall fest, daß die Armen irgend einem scheußlichen Verbrechen zum Opfer gefallen seien.
Die Sicherheitsorgane waren Tag und Nacht in Bewegung, doch alles Forschen und Suchen war vergebens, nicht der Schatten eines Verdachtes konnte auf irgend Jemanden geworfen werden. Da machte die Tochter der Ortsrichters die Anzeige, sie habe an der Wäsche ihres Bruders, eines achtzehnjährigen Schuhmacherlehrlings große Blutflecke entdeckt, und sprach zugleich die Vermutung aus, wenn Mordtaten geschehen seien, so müsse er an denselben beteiligt gewesen sein.
Der Bursche wurde eingezogen und mit Entsetzen vernahm man, daß er ganz allein die drei Verschwundenen in kannibalisch-grausamer Weise getötet habe. Das Motiv der Untat war Rache. Lehrer und Katechet mußten sterben, weil sie ihn, den faulen, störrigen Knaben vor Jahren mit schweren Strafen belegten, und sein Meister, weil er ihn mit dem Knieriem zur Arbeit anhielt.
In unmittelbarer Nähe Sommereins zieht sich ein prächtig grüner Wald hin, durch den sich, silberweiß, ein murmelndes Bächlein schlängelt. Am Rande des Waldes lauerte der verwahrloste Bursche den Unglücklichen, die Zufall oder Absicht einzeln diesen Weg führte, auf, überfiel sie rücklings, versetzte ihnen mit einer Hacke einen Hieb auf´s Hinterhaupt und schleppte die Betäubten in den Wald, wo er sie band und knebelte, um ihnen sodann bei lebendigem Leibe mit einem „Taschenseitel“ die Haut vom Körper zu schinden.
Auch nicht jenen winzigen Funken menschlichen Gefühles hatte das Scheusal in der Brust, als daß es, wenn auch mittelst dieser entsetzlichen Prozedur, seine Opfer mit einem Male getötet hätte. Nein, sobald der blutdürstige Bursche in seiner kannibalischen Arbeit ermüdete, wusch er sich die Hände am Bach, verbarg den Halbtoten im Gestrüpp, ging ruhig nach Hause, aß und trank dort und kehrte hierauf zurück, um sein fürchterliches Werk solange fortzusetzen, bis die wimmernden, verblutenden Männer unter entsetzlichen Qualen ihren Geist aufgaben.
So verfuhr der junge Sommereiner Richterssohn mit den drei Verschwundenen einzeln für einzeln, so lautete seine ihm mühsam abgerungene Aussage und so fand man die schauerliche Tat an den durch ihn vergrabenen Leichen bestätigt.
Das war der erste Delinquent, den mein Esseger Bruder, jung an Jahren, aber früh zu Kraft und Stärke entwickelt, vom Leben zum Tode beförderte. Unser mit einer großen Dosis von herbem Humor begabter Vater, der jede seiner Bewegungen mit Hand und Mund und Auge dirigierte, klopfte ihm, nachdem sich die Menge verlaufen hatte, mit den Worten auf die Schulter: „Brav, mein Sohn, es wird den Mördern ein Vergnügen sein, unter Deiner Hand zu sterben.“
Leseprobe aus: Die Memorien des Prager Scharfrichters Jan Piperger. Nach dem Original-Tagebuch bearbeitet von J. L. Devecseri. Neu herausgegeben von Michael Kirchschlager. Das Buch soll im Verlag Kirchschlager erscheinen.