Der Fall Brodka ist wohl als tragisch zu bezeichnen, handelt es sich doch bei Marianne Brodka um eine Frau, die nur deswegen zur Mörderin wurde, weil sie ein von der nationalsozialistischen Justiz und Ideologie als schwere Straftat eingestufte menschliche Zwischenbeziehung verheimlichen wollte.
Der 23jährige Wilhelm Jeschke war Truppführer beim Reichsarbeitsdienst in der ostpreußischen Hauptstadt Königsberg. Zu seinem Bekanntenkreis, besser seinem engeren Freundeskreis gehörte auch der junge Handlungsgehilfe Bruno Schipper. Schipper war 23 Jahre alt und prahlte damit, er habe eine neue Freundin. Marianne heiße sie, gerade 20 Jahre alt, und sie sei sehr charmant und kultiviert, eine aus besseren Kreisen. Ihre Mutter besitze ein Fremdenheim in der Münzstraße, nicht weit vom Schloßteich. Man wolle sich bald verloben und, wenn der Krieg erst einmal vorbei war, auch heiraten.
Neuerdings aber machte Schipper einen bekümmerten Eindruck. Jeschke erfuhr, daß sein Freund die Marianne immer seltener sah, ja sie gehe ihm immer häufiger aus dem Wege. Hatte sie eine neue Liebe gefunden? Der Handlungsgehilfe stellte Nachforschungen an, begann, seine Freundin zu beschatten …und erfuhr so die schreckliche Wahrheit. Marianne hatte tatsächlich einen neuen Freund, einen französischen Kriegsgefangenen. Einmal habe er die beiden sogar zusammen im Bett erwischt, als er unangemeldet das Fremdenheim aufsuchte und zufällig das unverschlossene Zimmer betrat, in dem sich die beiden gerade vergnügten. Darauf sei Schipper in höchste Wut geraten und habe Marianne gedroht, er werde sie anzeigen, wenn sie nicht sofort die Beziehung zu dem Franzosen beendete und sich wieder ihm zuwendete. Sein Freund Jeschke habe ihm nämlich dazu geraten. Beziehungen zwischen einer Deutschen und einem Kriegsgefangenen waren strafbar und wurden mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus geahndet.
Seit dem 23. Juni 1943, einem Mittwoch, war Schipper verschwunden. Sein Arbeitgeber wandte sich zunächst an Truppführer Jeschke, der seinerseits Nachforschungen anstellte. Niemand aus seinem Bekanntenkreis aber hatte den Handlungsgehilfen gesehen. Am 25. Juni ging der Truppführer zur Polizei und erstattete eine Vermißtenanzeige. Er machte sich um seinen sonst so zuverlässigen Freund große Sorgen. Sollte Marianne etwas mit seinem Verschwinden zu tun haben?
Am Nachmittag des 25. Juni begaben sich ein uniformierter Beamter der Polizei, zwei Kriminalassistenten, ein Beamter der Schutzpolizei sowie Truppführer Jeschke ins Fremdenheim in der Münzstraße, die vom berühmten Königsberger Schloß, der Krönungsstätte preußischer Könige, ausgehend parallel am Westufer des Schloßteiches entlangführte. Man erhoffte sich, die junge Frau könne Auskunft über den Verbleib des Handlungsgehilfen geben.
Das Fremdenheim, das Bestandteil eines größeren Wohnhauses war und auf zwei Etagen lag, war geschlossen, wegen dringender Reparaturen, wie ein Schild am Eingang zur unteren Etage besagte. Auf Klingeln wurde nicht geöffnet. Man holte einen Schlossermeister herbei, der die Tür zur unteren Etage öffnete. Die Beamten betraten die untere Etage und durchsuchten sie. Sie fanden nichts. Dann stiegen sie zur oberen Etage hinauf. Schon im Korridor empfing sie Verwesungsgeruch, kein gutes Zeichen!
Der Schlossermeister öffnete sämtliche Türen der Etage. Aus einem der Zimmer drang der Verwesungsgeruch am stärksten hervor. Die Männer betraten es vorsichtig und schauten in jedem Winkel nach. Auf eine Leiche stießen sie jedoch nicht. Ein an der Wand stehender großer, aber verschlossener Kleiderschrank erweckte nun ihre Aufmerksamkeit. Man ließ ihn von dem Schlossermeister öffnen. Auf dem Schrankboden lag ein übelriechendes Bündel Teppiche. Sie holten dieses heraus, entrollten es in dunkler Ahnung, was nun kommen würde … und schreckten dennoch zurück. Der Inhalt des Bündels entpuppte sich als eine bereits in Verwesung übergegangene Leiche … Man bat den Truppführer herein, der so lange draußen gewartet hatte, und fragte ihn, ob es sich bei dem Toten um den vermißten Schipper handele. Jeschke konnte nur schwer sein Entsetzen unterdrücken. Der Mann im Teppichbündel war tatsächlich sein Freund Bruno Schipper. Es bestand kein Zweifel, daß er ermordet worden war: Eine am Fundort vorgenommene ärztliche Untersuchung ergab fünf Einschüsse in der Brustgegend. Die Schüsse schienen aus allernächster Nähe abgegeben worden zu sein. Noch am Nachmittag wurde der Tote in das gerichtsmedizinische Institut in Königsberg gebracht.
Innerhalb kürzester Zeit war Kriminalkommissar Krebs von der Königsberger Mordkommission zur Stelle. Er ließ das gesamte Haus gründlich auf den Kopf stellen, denn allem Anschein nach war die Tat hier begangen worden. Von der Etage, in der der Tote gefunden wurde, führte eine Tür zum Dachboden. Von ihm aus gab es einen Zugang zum Dach, auf dem zwei Liegestühle standen. Anscheinend liebten es Mutter und Tochter Brodka, sich zu sonnen. Auf dem Dachboden selbst fanden die Ermittler fünf Patronenhülsen, und in einer Dachsparre steckte ein Geschoß, eine übliche Pistolenmunition. Es bestand kein Zweifel mehr: hier auf dem Dachboden also hatte Schipper sein vorzeitiges Ende gefunden. Einer dort stehenden alten Zinkwanne schenkten die Ermittler zunächst keine Aufmerksamkeit. Derartiges „Gerümpel“ war auf Dachböden nichts Seltenes.
Wo aber waren die beiden Bewohner des Hauses, Frau Brodka und ihre Tochter Marianne? Die übrigen Hausbewohner meinten, die Mutter sei, da sie gerade keine Gäste hatte, vor fünf Tagen für eine Woche nach Nidden gefahren, einem beliebten Badeort auf der Kurischen Nehrung, am Kurischen Haff gelegen (Heute gehört es unter dem Namen Nida zu Litauen.). Dort steige sie immer in einem kleinen Hotel ab. Und ihre Tochter sei ihr just am jenem Vormittag nachgereist, man hatte sie mit einem Koffer und einem Bademantel unter dem Arm gesehen. Sie mußte demnach schon in Nidden eingetroffen sein.