Die Wickiana – Die Sammlung des Johann Jakob Wick

Mit dem 16. Jahrhundert setzte nördlich der Alpen das Interesse am Kunstsammeln ein. In ausgeprägter Form vollzog sich dieser Prozeß in den großen Handelsstädten Süddeutschlands, deren Patriziat zu Beginn des 16. Jahrhunderts Träger der wirtschaftlichen und politischen Macht des Reiches war. Doch es entwickelte sich nicht nur die Sammelleidenschaft für Kunst im allgemeinen, es entstanden erste private Bibliotheken, Münzkabinette, Sammlungen von Kleinkunst, Gemälden usw. Parallel zu den Anfängen bürgerlichen Kunstsammelns entbrannte seit der Mitte des 16. Jahrhunderst auch den adligen Höfen eine wahre Sammelleidenschaft. Doch wir wollen mit unserem Blick nicht über jene Raritäten und Antiquitäten streifen, die heute noch in der einen oder anderen „Wunderkammer“ bestaunt werden können, wir wollen unser Interesse auf eine außergewöhnliche „Nachrichtensammlung“ richten.

Buchcover einer Ausgabe (kleine Auswahl!) von Flugblättern aus der Sammlung der Wickiana. Jubiläumsausgabe des Verlags Kirchschlager 2015.

Verbrechen, noch dazu höchst spektakuläre, fast unglaubhafte, wie das des Österreichers Josef Fritzel, der seine Tochter von 1984 bis zum Jahre 2008 in einer Wohnung unterhalb seines Hauses in Amstetten gefangen hielt, vergewaltigte und mit ihr sieben Kinder zeugte oder der Massenmord des Norwegers Anders Behring Breivik im Juli 2014 auf der Insel Utøya, der 77 zumeist jungen Menschen das Leben kostete, stießen – wie alle Meldungen dieser Art – auf ein breites Medieninteresse. Weltweit verfolgten Millionen von Menschen an ihren Fernsehbildschirmen die Nachrichten „vom Geschehen vor Ort“ in „Echtzeit“. Das neue Medium Internet schafft die Möglichkeit blitzschnell weltweit auf unterschiedlichste Informationen zuzugreifen. Innerhalb von Sekunden verbreiten sich die neuesten Nachrichten im „World Wide Web“. Nicht zuletzt wirken sich die unterschiedlichsten Arten von Internetnachrichten selbst auf das politische Geschehen ganzer Regionen aus. Fernsehen, Radio und Internet gehören zu den „Massenkommunikationsmitteln“ des 21. Jahrhunderts schlechthin. Gedruckte Zeitungen und Magazine bleiben heute nach und nach auf der Strecke. Drucke waren es jedoch, die seit der frühen Neuzeit für Informationsverbreitung sorgten.

Das Massenkommunikationsmittel der Frühen Neuzeit schlechthin war das illustrierte Flugblatt. Diese, mittlerweile äußerst seltenen und kostbaren Drucke gehören neben Mandat, Landkarten oder Kunstgrafik zur Gruppe der Einblattdrucke. Besteht ein Flugblatt, oft auch „Newe Zeittung“ genannt, aus mehreren Blättern, spricht man hingegen von einer Flugschrift. Unter dem Begriff des illustrierten Flugblatts läßt sich also „eine Gruppe von Einblattdrucken zusammenfassen, die in der Regel ein ausgewogenes Verhältnis von Bild und Text aufweisen, im Hochformat einen halben oder ganzen Druckbogen füllen und außer der Graphik auch Typendruck enthalten.“1 Neben dem Typendruck kommen auch gestochene oder geschnittene Schriften vor.

Die Auflagenhöhen der Flugblätter lagen zwischen 1000 und 2000 Abzüge. Um eine breite Leser- bzw. Käuferschaft zu erreichen war nur ein geringer Teil der Flugblätter in lateinischer Sprache abgefaßt oder enthielt lateinische Zitate. Nach modernen Schätzungen belief sich die Lesefähigkeit in den Städten der Frühen Neuzeit auf höchstens 10 Prozent. Dennoch werden auch leseunkundige Kunden das Flugblatt erworben oder in Auslagen gesehen haben, denn der Inhalt des Blatts wurde zumeist über die graphische Darstellung vermittelt. Auch öffentliche „Vorlesungen“ kann man sich vorstellen. Man sieht darin einen neuen Grad von literarischer Öffentlichkeit. Gleichzeitig bediente das Flugblatt, ähnlich heutiger Zeitungserzeugnisse, dem „Bedürfnis“ nach Voyerismus. Die Verbreitung ungeheuerlicher Nachrichten vollzieht sich am besten über entsprechende Bilder und Überschriften. Wie alle literarischen Erzeugnisse unterlagen auch die Flugblätter der Zensur.

Zur Herstellung eines farbigen Einzelblattdruckes war die Zusammenarbeit unterschiedlicher Handwerker und Gewerke nötig. Ein Formschneider konnte entweder anhand einer vom Künstler unmittelbar auf dem präparierten Druckstock angefertigen Zeichnung arbeiten oder bereits eine zeichnerische Forlage nutzen, die von einem Reißer auf den Druckstock übertragen worden war. Schließlich entschied der Drucker, ob er seine Druckstöcke färbte, oder einen Briefmaler hinzuzog. Manchmal fand sich der Drucker, Formschneider und Briefmaler in einer Person, wie wir es von Hans Weigel dem Älteren kennen.2

Zu den bedeutendsten Nachrichtensammlungen von Einblattdrucken und von illustrierten Flugblättern des 16. Jahrhunderts zählt die „Wickiana“ des Johann Jakob Wick (1522-1588), deren Zeitzeugnisse eines der interessantesten Epochenarchive bilden.

Johann Jacob Wick, dem die Sammlung ihren Namen verdankt, war von 1552 bis 1557 Pfarrer an der Predigerkirche in Zürich und danach Chorherr und zweiter Archidiakon am Grossmünster. Das Grossmünster ist eine evangelisch-reformierte Kirche in der Altstadt von Zürich mit den Kirchenpatronen Felix und Regula sowie Exuperantius. Bis zur Reformation war das Grossmünster zugleich Teil eines weltlichen Chorherrenstifts und Pfarrkirche. Das Grossmünster gehört zusammen mit dem Fraumünster und der St. Peter Kirche zu den bekanntesten Kirchen der Stadt Zürich, deren charakteristischen Doppeltürme das eigentliche Wahrzeichen Zürichs darstellen. In einem Wahlvorschlag wird Wick „ein frommer, gelerter und zügsamer man“ genannt.

Seine Biographie ist nicht so aufsehenerregend, daß die Zeitgenossen sich über Gebühr dafür interessiert hätten. Über seine Eltern ist wenig bekannt, sein Großvater Hans Wick war Weibel im Rathaus. 1533 kam Wick als Schüler in die von Heinrich Bullinger geführten Lateinschule im ehemaligen Kloster Kappel. Nach Beendigung seiner Ausbildung widmete er sich in Tübingen (1540) und Marburg theologischen Studien. Danach wirkte er als Pfarrer in Zürich-Witikon sowie in der Zürcher Landgemeinde Egg.

Von 1557 bis 1575 arbeitete Wick eng mit dem Reformator und Antistes (Vorsteher) der Zürcher reformierten Kirchen Heinrich Bullinger (1504-1575) zusammen, dem er von früh an freundschaftlich verbunden war. Er vertrat ihn mehrmals im Gottesdienst und stand 1564 Pate bei dessen Enkelin Susanna. Freundschaften pflegte er zudem mit dem Reformater und Nachfolger Bullingers Rudolf Gwalter (1519-1586), dem ehemaligen Kommilitonen in Marburg, und dem fünf Jahre jüngeren Reformator und Antistes Ludwig Lavater (1527-1586).

Um die Geisteswelt Wicks und seiner Zeitgenossen zu verstehen, sei als Beispiel ein Druck Lavaters von 1578 erwähnt, der bei Christoph Froschauer gedruckt wurde. Darin beschäftigt sich der Autor ernsthaft und ausführlich über vermeintlich eund wirkliche Gespenster, über vorzeichenhafte Erscheinungen und das Treiben des Teufels. Überhaupt scheint der Teufel die Zeit „besessen“ zu haben. Der geschätzten Leserschaft wird er in dieser Festschrift des öfteren begegnen.

Wie stark der Glaube zu Wicks Zeiten an den Teufel und seine Helfershelfer

verbreitet war, zeigt die Zeichnung von den Taten eines Werwolfes,

der Kinder zerfleischte. Gemäß der frühneuzeitlichen Rechtsprechung

wurde der sogenannte Werwolf mit einer Kombinationsstrafe

(Reißen mit glühenden Zangen und anschließender Räderung) bestraft.

An dieser Stelle ist man geneigt, der nüchternen Beschreibung der Biographie unseres Nachrichtensammlers, die Bemerkungen des Schweizer Rechtshistorikers Hans Fehr (1874-1961) „unterzuschieben“, der erstmals 1924 die Flugblätter aus der Sammlung Wickiana, einem größeren Publikum vorgestellt hat.

Fehr beschreibt Wick und seine Sammlung wie folgt: In Zürich lebte ein merkwürdiger Mann: Johann Jakob Wick. Seine Geburt fällt in das Jahr 1522, sein Tod in das Jahr 1588. Seines Zeichens war er ein zum Protestantismus übergetretener Geistlicher und Chorherr in Zürich. Dieser Mann setzte sich zur Aufgabe, alle Merkwürdigkeiten seiner Zeit zu sammeln. Er wandte sich an alle Freunde und Bekannten mit der Bitte, ihn in seinem Sammeleifer zu unterstützen, und erstellte Leute in seinen Dienst, die für ihn schrieben und sammelten. Allerorts fand er williges gehör. Aber mit schriftlichen Beiträgen war der eigenartige Kauz nicht zufrieden. Wo immer ein Bild zum Text ausgegeben war, oder wo immer der Mitsammler selbst ein solches malen konnte, bat Wick um die Einlieferung solcher Blätter. Er selbst war unermüdlich tätig. Er schrieb, kopierte, zeichnete und pinselte mit unbeholfener Hand, aber immer anschaulich und plastisch. Alles Artistische war ihm fremd. Seine Kunst bestand im Sammeln, im unermüdlichen Sammeln. Und dabei ging er wahllos zu Werke. Ob gut, ob schlecht, ob wahr oder verfälscht, ob schlicht, ob dramatisch, ob alltäglich, ob höchst verwunderlich: Alles raffte er zusammen und speicherte es in seiner Sammlung auf. […] Die Sensation war seine schwache Seite. Er läßt den zweiten BAnd überschreiben: Der ander theil dieser Wunderbüchern. Als Protestant war er voll Haß gegen das Papsttum und seine Diener. Wo er Verspottungen und Schmähungen der Kirch fassen konnte, nahm er sie mit Behagen unter seien Blätter auf.3

Johann Jakob Wick nach einem zeitgenössischen Porträt kopiert von Johann Heinrich Meyer (1785). ZB Zürich Ms. F 108, fol. 6.

Der Chorherr Wick versah sein Amt gewissenhaft und war noch bis ins hohe Alter hinein rüstig. Als am 20. Mai 1588 die Städte Zürich, Bern und Straßburg ein Bündnis schlossen, zogen die Bürger der drei Städte zum Schwur geharnischt vor die Tore der Stadt Zürich. Handschriftlich erinnert sich Wick an ein ähnliches Ereignis, welches er als Siebenjähriger erlebt hat. Do [im Jahre 1530] zog ich Hans Jacob Wik auch mitt sampt anderen iungen knaben, den frömbden herren engegen, […] was zur selbigen zyt siben iar alt; wie auch jez ich mit sampt der burgerschafft innen under einem spiess und ganzem harnisch engegen zogen bin, mins alters 65 iar, und (Gott hab lob) noch frisch und gsund mit verwunderung der ganzen statt.4

In seiner Zeit am Grossmünster trug er von 1559 bis 1588 aktuelle Zeugnisse chronologisch zusammen. Weitere Materialien aus der Zeit von zirca 1505 bis 1559 gliederte Wick seinen Kollektaneen ein.5

Handschriftliche Aufzeichung samt Illustration eines Falles

von einem Serienmörder, der Frauen umbrachte, trotz seines hohen Alters.

Neben den gedruckten Blättern enthält die Wickiana zahlreiche Berichte und Abhandlungen über Kriminal- und Rechtsfälle in Form von handschriftlichen Berichten und aquarellierten Zeichnungen. Die Sammlung ist in 24 Foliobände gebunden. Nach dem Tod Wicks 1588 gelangte die Sammlung in die Stiftsbibliothek des Grossmünsters und 1836 in die Stadtbibliothek Zürich. Neben einer großen Zahl von Drucken aus dem deutschsprachigen Raum sind auch 52 fremdsprachige Exemplare zu verzeichnen. Eine Vielzahl der Blätter stammt aus so bedeutenden Zentren des Buchdrucks wie Augsburg, Nürnberg und Straßburg. In Bild und Text berichten die Drucke unter anderem von Naturereignissen – Kometen, Erdbeben oder Fluten –, von Mißgeburten, Verbrechen, geschichtlichen Ereignissen, Gespenstern und vielem mehr. Die Sammlung kann als Reflex auf das Krisenbewußtsein in einer Zeit konfessioneller und politischer Unsicherheit verstanden werden. Der erste Zürcher Reformator Huldrych Zwingli (1484-1531) sah das Weltende unmittelbar bevorstehen. Die zumeist greulichen Nachrichten dürften von Wick und seinen Zeitgenossen als Vorboten des Jüngsten Gerichts gedeutet worden sein.

Kommen wir am Schluß noch einmal zu Hans Fehr zurück, der sich eine „größere Ausgabe, nicht nach zufälligen, sondern nach festen Gesichtspunkten geordnet“, wünschte. Diese Art der Ausgabe wurde von Wolfgang Harms und Michael Schilling realisiert6.

1 Michael Schilling: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700, Tübingen 1990, S. 3.

2Karin Kanter: Probleme einer kulturhistorischen Einordnung frühneuzeitlicher Einblattdrucke am Beispiel dreier Briefmaler-Blätter. In: Illustrierte Flugblätter der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Michael Schilling, Magdeburg 2012, S. 19.

3 Hans Fehr: Massenkunst im 16. Jahrhundert. Flugblätter aus der Sammlung Wickiana. Berlin 1924, S. 5f.

4St A Zürich, G I 72, 105v.

5Zur Biographie vgl. Matthias Senn: Die Wickiana. Johann Jakob Wicks Nachrichtensammlung aus dem 16. Jahrhundert, Zürich 1975, S. 7-13.

6 Wolfgang Harms und Michael Schilling (Hg.): Die Wickiana. Die Sammlung der Zentralbibliothek Zürich. Kommentierte Ausgabe, Teil I/II (Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. Jahrhunderts, Bd. 6/7), Tübingen 1997–2005.

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