Im Jahr 1996 waren wir zu dritt unterwegs und hatten gerade einen Auftrag erledigt, als wir vom Lagezentrum schon zum nächsten Einsatz zitiert wurden: Eine junge Frau aus Aschersleben bezichtigte sich selbst, ihr Kind umgebracht zu haben. Als wir eintrafen, waren die Vernehmungen bereits erfolgt; uns erwartete »nur noch« die Tatortarbeit, um sicherzustellen, daß der geschilderte Kindsmord auch tatsächlich stattgefunden hatte. Leider hatte es niemand für nötig gehalten, uns vor dem Zustand der Wohnung zu warnen, denn als wir die unverschlossene Tür aufschoben, bot sich uns ein Bild … einem Gruselfilm erster Klasse gleich. Die gesamte Wohnung, bestehend aus Stube, Küche und Schlafraum, war komplett – von der Decke bis hinunter zum Fußboden – mit dichten, verstaubten Spinnweben versehen. Die Sichtweite lag nahezu bei null, zumal auch die Fenster verdunkelt waren. Lediglich die täglichen Laufwege der Bewohnerin, die etwa in Breite und Höhe ihrer zierlichen Figur entsprachen, zeigten ein bestimmtes Bewegungsmuster zwischen Bett, Waschbecken und mehreren zum Teil prallgefüllten – ich möchte es einmal vorsichtig ausdrücken – Fäkalieneimern. Unter unseren Schuhen drückte es sich meist weich ein, da der Fußboden mit zirka zwei bis drei Zentimeter dickem Hausmüll, darunter auch toten Mäusen, belegt war. Wir verließen zunächst die Räumlichkeiten und zogen uns die weißen Overalls, Gummihandschuhe und Schutzmaske über, wobei uns der blanke Ekel überkam. Wir waren jedoch gezwungen, in dieser Wohnung, die mehr einer verstaubten Höhle glich, ein totes Kind zu finden. Nachdem wir die fotografische Sicherung dieses Elends vorgenommen und Küche sowie Stube intensiv in Augenschein genommen hatten, öffneten wir vorsichtig die Schlafzimmertür. Dort mußten wir feststellen, daß dieser Bereich seit Jahren nicht mehr betreten worden war. Hier existierte kein Gangbild, also auch keine Höhle. Mit einem alten Besen drückten wir die Spinnweben herunter, um die Sicht zu erleichtern. Eine alte verstaubte Einkaufstüte aus Plastik erregte unsere Aufmerksamkeit. Als mein Kollege sie öffnete, standen uns die Haare zu Berge: Mit viel Phantasie konnte man eine mumifizierte Kinderleiche erkennen! Der tote Säugling war nicht größer als ein Kaninchen. Schlußfolgernd mußte das Kind schon bei der Geburt oder kurz danach verstorben sein. Den anschließenden Untersuchungen nach lag der Kindstod schon zirka zwei Jahre zurück. Zu den weiteren Ermittlungen erhielt ich leider keine Kenntnis.
In diesem Bereich fanden wir eine Babyleiche.
Die Zustände sprechen für sich.
Offenbar besaß die junge Frau keine sozialen Kontakte und lebte am Rande des Existenzminimums. Die augenfällig psychisch sehr stark angeschlagene Frau hatte sich ganz in sich selbst zurückgezogen – ihre Seele kann man sich wie die Spinnenwebenhöhle vorstellen, in der sie ihr Dasein fristete. Es schien, als habe sich die Frau über Jahre hinweg um eine vernünftige Entscheidung herumgeschlichen. Erst ihre Selbstanzeige brachte ihr Erlösung.
Ob das Kind tot geboren oder durch Unterlassung bzw. Tötung den Tod gefunden hatte, entzieht sich meiner Kenntnis.
Lesetermine in Aschersleben u. a. (weitere Termine folgen):
18. Oktober 2016 , 19 Uhr im Bestehornhaus in Aschersleben (im Rahmen der "Ascherslebener Gespräche")
20. Oktober 2016, 18 Uhr im Feuerwehrgerätehaus "Am Breiten Tor 2 in Halberstadt" (läuft im Rahmen eines Traditionstreffens ehemaliger Kameraden),
27. Oktober 2016, 19.00 Uhr im Gewölbekeller des Gröninger Kulturhauses, Einlass ab 18.00 Uhr.
11. November, Güsten, Gasthaus “Schwarzer Bär”, ab 19 Uhr