Ein preußischer Henkersknoten (um 1740)

Um 1740 wohnte zu Berlin eine bejahrte, aber wohlhabende Witwe, Frau B. Da sie keine Kinder besaß führte sie in ihrem netten Häuschen ein stilles, einsames Leben, das nur zuweilen durch die Besuche eines ihrer Verwandten, Namens Andreas, unterbrochen wurde. Doch war es ihr lieb, daß derselbe nur selten sich einstellte, weil sie seine rohen Sitten nicht gern sah, und einen gewissen Abscheu vor seinem Gewerbe hatte, da er bei dem Scharfrichter in Spandau in Diensten stand.

Um nicht ganz allein zu stehen, nahm sie ein kleines Mädchen aus ihrer Verwandtschaft zu sich und sorgte sich eifrig für die Erziehung des Kindes. Auch fand sich bald ein Kandidat der Theologie, der den nötigen Unterricht gern erteilte, da ihm ein freundliches Oberstübchen eingeräumt wurde. Kandidat Werner war ein fleißiger stiller Mensch, und mitten in der geräuschvollen Residenz schien das Häuschen unserer Witwe ein Ort des Friedens zu sein.

Eines Tages aber fällt es den Nachbarn auf, daß um die Mittagszeit die grünbemalten Fensterläden der Frau B. noch nicht geöffnet sind und kein Laut im Haus zu vernehmen ist. Man holt die Polizei, man erbricht die Tür und findet die Frau B. in ihrem Bett erdrosselt, den Geldschrank geöffnet und ausgeleert. Sogleich forscht man auf das Sorgfältigste der Spur des Mörders nach, der nur unter den Hausgenossen selbst zu suchen ist, da nirgends ein gewaltsamer Einbruch sich zeigt und alle Türen verschlossen sind. Im ganzen Häuschen aber wohnt, außer dem kürzlich auf das Land abgeholten Mädchen, nur noch der Kandidat Werner, gegen den der Verdacht zur augenscheinlichen Gewißheit wird, da einige Arbeitsleute in der Nähe aussagen, daß sie gesehen, wie er vor Tagesanbruch eiligen Schrittes das Haus verlassen habe.

Nach allen Seiten verfolgt man also den Flüchtling und schon am anderen Tag ergriffen ihn die ausgesandten Gendarmen in einem Dorf an der Straße nach Freienwalde. Der arme Gottesgelehrte geriet bei der plötzlichen Verhaftung in die sichtbarste Angst, und nach vielen unzusammenhängenden Reden vermochte er kaum auf die Frage der Gerichtspersonen zu sagen, daß er einen Freund in Freienwalde habe besuchen wollen. Doch bald ermannte er sich, und als man ihn der schrecklichen Tat beschuldigte, leugnete er fortwährend auf das Standhafteste. Da wurde er zu einem Hauptverhör geführt.

Nach einigen unbedeutenden Reden wird plötzlich ein Tuch aufgedeckt. Dem Kandidaten zeigt sich der gräßlich entstellte Leichnam seiner würdigen Wohltäterin, den tödlichen Strick um den Hals, und der Kriminalrichter ruft mit furchtbarer Stimme: „Seht hier das Werk des Mörders!“

Besinnungslos fällt Werner zur Erde, aber kaum hat er sich erholt, so erschöpft er sich von neuem in Beteuerungen seiner Unschuld. Er beruft sich auf ein ruhiges, nur den Wissenschaften gewidmetes Leben, wie er die Verstorbene fast mit kindlicher Liebe geehrt habe, wie er stets mit ganzer Seele seinem heiligen Berufe, dem Dienste Gottes ergeben war. Aber kalt und ernst erwiderte der Richter: „Scheinheilige Reden nützen hier nichts. Ich habe noch weit verschmitztere Verbrecher unter den Händen gehabt. Doch gibt es ein Mittelchen, das auch den Verstocktesten zahm macht. In die Folterkammer mit ihm!“

Mehr tot als lebendig wird der Unglückliche weggeschleppt, zitternd erblickt er die Marterwerkzeuge und schon die ersten Grade der Qual wirken so schrecklich auf seinen schwächlichen Körper, daß er alles gesteht, was man zu hören verlangt. Bald war nun der Prozeß beendet. Von außen war niemand in das Haus gedrungen, der Kandidat hatte sich allein darin befunden und er hatte die Flucht ergriffen. Seine Verwirrung bei der Verhaftung und beim Anblick der Leiche bewies seine Schuld. Nur das Geständnis hatte gefehlt, und auch dieses war nun erfolgt. So wurde denn der Kandidat Werner zum Tode verurteilt und in einer feierlichen Gerichtsversammlung sollte ihm das Urteil eröffnet werden.

In einem weiten Saal sitzen die Diener der Gerechtigkeit, obenan der Kriminalrichter, vor ihm eine schwarzbehangene Tafel, auf der der Strick liegt, mit dem der Mord vollbracht wurde. Zur Seite steht, in den roten Mantel gehüllt, mit blitzendem Schwert in der Hand, der Scharfrichter mit seinen Leuten. Nach Vorlesung der nötigen Akten rief der Richter, den Strick in die Höhe nehmend, dem Angeklagten zu: „Also mit diesem Strick hast du die Mordtat verübt?“

Doch ehe noch Werner ein leises „Ja“ hervorgestöhnt hat, ruft eine raue Stimme: „Das ist ja ein Henkersknoten!“ Als der Oberrichter verdrießlich fragt, wer hier störe und was das heißen solle, trat aus der Reihe der Henkersknechte ein schwarzbärtiger, riesenmäßiger Kerl hervor und spricht: „Nehmen sie es mir nicht ungütig, gestrenger Herr Richter, aber an dem Strick hier ist ein Henkersknoten, den keiner macht, der nicht ordentlich in unserm Handwerk gelernt hat, und wenn der blasse Magister dort sagt, er hätte den Knoten gemacht, so ist er ein Lügner, denn von der Scharfrichterei wird er wohl nichts verstehen!“

Sogleich wurde die Hinrichtung eingestellt, und der Prozeß erhielt eine nicht geahnte Wendung, denn die Stimme des Knechtes war die Stimme Gottes gewesen, der die heißen Gebete des unglücklichen, des unschuldigen Werner erhört hatte. Die Gerichte kamen sogleich jenem Andreas auf die Spur, der die Witwe B. zuweilen besucht hatte. Er wurde in Spandau verhaftet, und gestand bald, daß er sich die Schlüssel des Hauses verschafft und den Raubmord begangen habe. Er erhielt den verdienten Lohn, und der Kandidat Werner wurde mit einer feierlichen Ehrenerklärung entlassen. Aber wer konnte ihm für die erlittenen Schmerzen, für die ausgestandene Todesangst einen Ersatz bieten? Wie nahe war man daran gewesen, unschuldiges Blut zu vergießen!

In Erwägung dessen befahl nun auch Friedrich der Große (am 3. Juni 1740), von dem merkwürdigen Vorfall in Kenntnis gesetzt, für immer die Abschaffung der Folter in den preußischen Landen und wiederum war ein Fortschritt in der Kultur der Menschheit geschehen, indem es unbegreiflich ist, wie jene barbarische Einrichtung unter vernünftigen, unter christlichen Völkern sich so lange erhalten konnte.

Aus: Kirchschlagers Criminal- & Curiositäten-Cabinett, Band 1.

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