Lenka von Koerber – Die Vielseitige, Teil 1

In den verschiedensten Büchern der Kriminalgeschichte ist sie erwähnt, in einem Kriminalmuseum hängen die Aufnahmen des Tatortes, daneben eine Photographie der Täterin, und der Besucher schaudert, wenn er die harten Züge dieser Verbrecherin betrachtet.

Sechs Jahre lang hat sie die Schuld geleugnet, obwohl Fingerabdrücke sie verraten haben. Sie war völlig verstockt und die strengen Maßnahmen des alten Strafvollzuges konnten keinen Eindruck auf sie machen. Sie kannte Strafanstalten zur Genüge, weil sie schon zwölfmal vorbestraft war, und die „Züchtlingin“ war nicht geneigt, irgend jemand an sich heranzulassen. Als die Vergeltungsmaßnahmen nach dem Kriege langsam revidiert wurden und man zu der Erkenntnis gelangte, daß der Verbrecher doch schließlich noch ein Mensch sei, über den es sich nachzudenken lohnte, wurde die Behandlung der Gefangenen menschlicher.

Da fing die Mörderin an, ihr Leben zu betrachten. Bisher hatte sie alle Kräfte dazu gebraucht, sich nach außen zu wehren. Jetzt gab es kleine Erleichterungen, die unnötigen Härten milderten sich – und sie dachte nach. Sie wußte genau, warum sie nicht gestanden hatte. Diesem Untersuchungsrichter hatte sie nichts gestehen können, diesem Untersuchungsrichter, der ihr das Schlimmste angetan hatte. Sie wird den Tag und die Stunde nie vergessen, als er sie zu ungewohnter Zeit in sein Zimmer kommen ließ. Sie sieht noch deutlich jedes Bild an der Wand, jeden Gegenstand auf dem Schreibtisch, sieht die beiden feinen Damen, die auf dem Sofa sitzen und sie betrachten, so wie man ein wildes Tier hinter dem Gitter ansieht, mit dem beruhigenden Gefühl, daß es ja eingesperrt ist und den Betrachter nicht anspringen kann. Beide Damen sprechen kein Wort, sehen sie neugierig an, und plötzlich erhellen Furcht und Grauen ihre Gesichtszüge.

Das war alles ein Vorgang von Sekunden, aber als sie wortlos wieder fortgeführt wurde, schien es ihr, als hätte sie stundenlang diesen Blicken standhalten müssen. Nur um besichtigt zu werden, war sie gerufen worden, nur um den feinen Damen zu zeigen: so sieht eine Raubmörderin aus, dies ist die Vielgesuchte, die wir jetzt endlich festgenommen haben. Dazu hatte man sie gerufen. Und in der kleinen Stelle ihrer Seele, in der noch nicht alle Scham erloschen war, hat es schmerzhaft gezuckt.

Die folgende Geschichte stammt aus dem Band „Menschen im Zuchthaus“, Frankfurt am Main, Societäts-Verlag, 1930, von Lenka von Koerber. In manchen Antiquariaten kann man es noch erwerben, so auch bei Amazon. Das Buch ist sehr lesenswert. Mehr von Lenka von Koerber im Teil 2, Kommentarteil.

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