Das Geheimnis der Marianne Brodka (Preußen – 1943) Teil 4

Die Strafjustiz verlor keine Zeit. Die Strafe hatte aus nationalsozialistischer Sicht der Tat auf dem Fuß zu folgen. Wenige Tage nach der Verhaftung beantragte die Generalstaatsanwaltschaft in Königsberg, baldigst die Hauptverhandlung anzusetzen. Wie schon seit Jahren üblich, hatte sich das Sondergericht mit der Aburteilung zu befassen.

Doch dann trat ein Umstand ein, mit dem niemand gerechnet hatte. Wenige Tage vor dem Beginn des Prozesses offenbarte die Beschuldigte ihrem Strafverteidiger, daß sie ein Kind erwarte, und zwar von ihrem Liebhaber, den sie so kaltblütig erschossen hatte …  Das sollte aber für die geplante Verhandlung keine Auswirkung haben.

Genau vier Wochen nach der Mordtat begann am Donnerstag, dem 22. Juli 1943, im großen Saal der Strafkammer des Königsberger Landgerichts der Sondergerichts-Prozeß gegen die Mörderin und den mitangeklagten Arno Schleiminger. Das Justizgebäude war förmlich umlagert von Neugierigen. Dieser Mordfall hatte die Königsberger sehr erregt. Doch nur ein Teil erhielt Einlaß. Den Vorsitz führte Landgerichtsdirektor Dr. Steiner, flankiert von zwei Berufsrichtern.

Als man Marianne Brodka in ihrer grauen Anstaltskleidung hereinführte, ging ein Raunen durch den Saal. Die Hälse insbesondere der weiblichen Zuschauer reckten sich. So also sah die Frauenperson aus, die sich mit einem französischen Kriegsgefangenen einließ, intimen Umgang mit anderen Männern pflegte und schließlich den Mann, von dem sie ein Kind erwartete, kaltblütig erschoß. Die männlichen Zuschauer dagegen wollten sich nur davon vergewissern, ob sie so schöne Beine habe, wie man ihr nachsagte … Die Angeklagte nahm neben dem bereits vorgeführten Schleiminger auf der Anklagebank Platz.

Zunächst hielt Erster Staatsanwalt Sauer als Vertreter der Anklagebehörde, eben jener Staatsanwalt, mit dem die Brodka in Nidden einige Stunden allein verbracht hatte, die Anklagerede. Er bezeichnete sie als „ausgesprochene Verbrechernatur“, als „Frauensperson mit brutaler Sinnlichkeit“. Dieser Fall werde mit Sicherheit in die Kriminalgeschichte wie auch in die Geschichte der Kriminalpsychologie eingehen.

Darauf wurde die Angeklagte zur Person vernommen. Am 8. September 1922 als Tochter eines Ingenieurs im ostpreußischen Allenstein geboren und katholisch getauft, hatte sie eine mittelmäßige Schulbildung genossen. Die Ehe der Eltern wurde später geschieden. Daraufhin zog die Mutter mit der Tochter nach Königsberg und eröffnete dort ein Fremdenheim, in dem es gelegentlich auch sexuell sehr freizügig zugegangen sein soll, wie Zeugen später aussagten. Die Zahl der Gäste hielt sich dagegen in Grenzen. Schon früh sei Marianne Brodka durch Verschlagenheit aufgefallen, wie Zeugen bekundet hatten. Vor allem sei sie durch ihre sexuelle Triebhaftigkeit aufgefallen, was wohl der Umgebung geschuldet war, in der sie aufwuchs. Diese Triebhaftigkeit habe wohl dazu geführt, daß sie ständig wechselnde Beziehungen zu Männern hatte. Das Gericht machte keinen Hehl daraus, sie als frühreifes, mannstolles Wesen darzustellen, das immer wieder seiner hemmungslosen Natur nachging, mit sechzehn bereits intime Erfahrungen machte und seitdem eine lange Reihe von Liebhabern gehabt habe. Das Pflichtjahr* und den Reichsarbeitsdienst habe sie erfolgreich zu umgehen gewusst.

* Von den Nationalsozialisten 1938 eingeführter einjähriger Arbeitsdienst für Mädchen und Frauen unter 25 in der Landwirtschaft und in kinderreichen Familien, in dem sie auf ihre künftige Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereitet wurden. Vor allem sollten Treue, Pflichterfüllung, Opferbereitschaft, Leidensfähigkeit und Selbstlosigkeit zugunsten der Volksgemeinschaft gefördert werden.

Mit äußerster Spannung verfolgten die Zuhörer und das Gericht den Ausführungen der Angeklagten, als sie die einzelnen Phasen der Tat schilderte, ruhig und ohne jedwede Emotionen. Der Fall war klar: die Brodka war geständig, und alle im Saal erwarteten einen raschen Abschluß der Verhandlung mit dem zwingend vorgeschriebenen Todesurteil. So war es schon seit Jahren üblich. Da meldete sich ihr Verteidiger zu Wort. Seine Mandantin habe eine wichtige Erklärung abzugeben. Der Vorsitzende gab dem Antrag statt.

Daraufhin erhob sich die Brodka, schaute sich im Saal um und teilte dem dreiköpfigen Gericht unter mühsam unterdrückten Tränen mit, ihr französischer Liebhaber sei bei der Tat dabeigewesen und habe ebenfalls geschossen. Er sei auf Schipper nämlich sehr eifersüchtig gewesen.

Die Verhandlung wurde sofort unterbrochen und auf den nächsten Tag vertagt. Das Gericht setzte sich sofort mit dem Kriegsgefangenenlager in Verbindung und ließ dort Gaston verhören.

Am Morgen des 23. Juli, einem Freitag, war der Andrang der Zuhörer vor dem Landgericht unvermindert groß. An diesem Tag sollte sich das Schicksal der berühmt-berüchtigten Mörderin entscheiden. Zunächst stand Gaston vor dem Richtertisch. Er würdigte die Angeklagte keines Blickes. Und bei der Vernehmung des Franzosen stellte sich heraus, daß er keineswegs bei der Tat dabeigewesen sein könne. Zur Tatzeit befand er sich im Lager und nicht in der Stadt. Keineswegs machte er den Eindruck, als sei er zu einem Mord fähig. Er wurde wieder entlassen, und die Verhandlung gegen die Anklagte nahm ihren Fortgang. Die Befragung der geladenen Zeugen brachte keine neuen Erkenntnisse.

Der medizinische Sachverständige Dr. Hausbrand, Dozent am Institut für gerichtliche Medizin der Universität Königsberg, erstattete Bericht über die Geisteszustand. Seinem Eindruck nach sei es der Angeklagten bei Begehung der Tat völlig gleichgültig gewesen, daß sie die Todesstrafe auf sich lud. Dazu habe eine „Ballung der Affekte“ geführt: Durch die Drohung von seiten des Opfers, sie anzeigen zu wollen, habe sie unter starkem seelischen Druck gestanden. Dieser wurde dadurch verstärkt, daß sie gerade in jenen Tagen medizinische Gewißheit über ihre Schwangerschaft erhalten habe. Zudem sei sie erblich belastet und in einem ungünstigen Milieu aufgewachsen. Im Fremdenheim habe sie als heranwachsendes Mädchen sicherlich mehr gesehen und gehört als anderswo. Dennoch halte er Marianne Brodka für zurechnungsfähig und im Sinne des Gesetzes voll verantwortlich für ihre Tat. Immerhin habe sie den Mord planmäßig, ja zielstrebig vorbereitet.

Darauf erhob sich der Erste Staatsanwalt Sauer. Er vermied es nun, die Angeklagte anzusehen und sie einer weiteren Schmähung zu unterziehen. Statt dessen beschränkte er sein Plädoyer auf eine kurze Zusammenfassung des Verbrechens und stellte den Strafantrag: Todesstrafe wegen Mordes, sechs Jahre Zuchthaus wegen verbotenen Umgangs mit einem Kriegsgefangenen und lebenslanger Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Er wußte aus seiner jahrelangen Erfahrung vor dem Königsberger Sondergericht, daß dieser Antrag nur noch der formellen Bestätigung durch den Vorsitzenden Richter bedurfte.

Dann hatte der Strafverteidiger Ronge das Wort. Im Grunde konnte er die Angeklagte auch nicht mehr retten. So beschränkte er sich darauf hinzuweisen, daß sich seine Mandantin in höchster seelischer Not befunden habe, wie sie bereits der medizinische Sachverständige beschrieben hatte. Er versuchte, alle mildernden Umstände zu präsentieren, die zumindest auf ein zukünftiges Gnadengesuch eine positive Auswirkung haben könnten. Denn an dem Ausgang der Verhandlung war nicht zu zweifeln. Marianne Brodka hatte keine Gnade zu erwarten.

Als man die Angeklagte zu einem letzten Wort aufforderte, sagte sie nur: „Ich schließe mich den Ausführungen meines Verteidigers an.“

Am späten Vormittag zog sich das Gericht zur Beratung zurück. Nur noch eine Formsache, denn das Urteil stand, wie in jener Zeit üblich, schon vor der Verhandlung fest. Als es bald darauf wieder den Saal betrat, verkündete Landgerichtsrat Dr. Steiner mit steinerner Miene die Strafmaße für beide Angeklagten: Todesstrafe für Marianne Brodka wegen vorsätzlichen und überlegten Mordes, sechs Jahre Zuchthaus wegen Umgangs mit einem Kriegsgefangenen und lebenslanger Ehrverlust, für den Mitangeklagten Schleiminger dagegen wegen Begünstigung zum Mord ein Jahr und wegen unerlaubter Waffenüberlassung ebenfalls ein Jahr Gefängnis. Beide Strafen wurden auf ein Jahr und neun Monate zusammengezogen.

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