Das Geheimnis der Marianne Brodka (Preußen – 1943) Teil 5 – Ende

In der Urteilsbegründung räumte Dr. Steiner ein, daß es sich bei der Angeklagten um eine erblich belastete Person handele, die in ihrer frühen Jugend schlechten Einflüssen ausgesetzt war. Das solle aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Brodka eine hemmungslose Natur habe und daß sie weder vor noch während der Verhandlung Reue über ihre Tat, den Mord am Vater ihres Kindes, gezeigt habe. Ihre Gefühlskälte sei höchst erschreckend. Die Tat wurde erwiesenermaßen mit Vorsatz, Überlegung und Heimtücke ausgeführt. Dafür war die Todesstrafe zwingend vorgeschrieben. Auf den verbotenen Umgang mit dem französischen Kriegsgefangenen jedoch ging der Vorsitzende nicht näher ein.

Ohne sich irgendeine innere Erregung anmerken zu lassen, ließ sich die dem Tod Geweihte abführen, zurück ins Gerichtsgefängnis. Dort bezog sie nun eine der mehrere Dutzend Todeszellen, in der sie bis zu ihrem Ende gefesselt und unter ständiger Beobachtung gefangengehalten wurde. Königsberg war eine der meistbeschäftigten zentralen Hinrichtungsstätten im deutschen Osten. Nur wenige Tage zuvor wurden sechs Personen zum Fallbeil geführt, darunter eine 64jährige deutsche Großmutter mit dem Geburtsnamen Broska, die das einzige Kind ihres an der Ostfront gefallenen Sohnes, ein dreijähriges Mädchen, grausam in einem Brunnen ertränkt hatte.

Die in Königsberg erscheinende Preußische Zeitung schrieb am 24. Juli 1943: „Der Fall Brodka hatte in Königsberg und weit darüber hinaus stärkstes Aufsehen erregt. Wenn wir uns dazu entschließen, diesem Fall ausführlichere Beachtung zu schenken, so einzig und allein aus dem Grunde, um noch einmal mit aller Klarheit darzulegen, daß unsere Justiz schnell und unerbittlich arbeitet, daß sie bestrebt ist, alle Elemente aus der Volksgemeinschaft auszuschließen, die das Ansehen des nationalsozialistischen Staates schädigen.“*

* Das klingt für uns Heutige wie ein Hohn: Die Mordtat einer jungen Frau aus einer seelischen Not heraus galt als Schädigung des Staates. Zur selben Zeit rollten pausenlos die Massentransporte nach Auschwitz und andere Vernichtungslager, um ihre Fracht, jüdische Bürger aus vielen europäischen Staaten, zu ermorden …

Weitere Rechtsmittel gab es gegen Urteile des Sondergerichts nicht. Sie erlangten sofortige Rechtskraft. Nur ein Gnadengesuch an den Reichsjustizminister konnte das Leben der Verurteilten retten. Und es gab einen gewichtigen Grund für einen Aufschub der Vollstreckung, die in der Regel vier bis sechs Wochen nach der Urteilsverkündung stattfand: sie erwartete ein Kind. An schwangeren Frauen durfte die Todesstrafe nicht vollstreckt werden. Auch nach der Geburt wurde ihnen noch eine Schonfrist von mehreren Wochen eingeräumt, die sogenannte gesetzliche Stillzeit. Zudem machte sich die Brodka Hoffnung, daß ein baldiges Ende des Krieges ihr Leben retten könne. Für das Deutsche Reich hatte der Krieg seit dem Zusammenbruch in Stalingrad Anfang des Jahres einen ungünstigen Verlauf genommen. Die Rote Armee stieß immer weiter und immer rascher nach Westen vor. Der Zusammenbruch schien unaufhaltsam. Für die zum Tode verurteilte angehende Mutter begann ein Wettlauf mit der Zeit. Und mit jedem Sieg der Alliierten stiegen auch die „Erfolgsaussichten“ der Marianne Brodka. Möglicherweise würde sie dem Fallbeil entgehen …

Und da war noch der Erste Staatsanwalt, der zwar den Tod für sie gefordert und durchgesetzt hatte, aber bestimmt über einen gewissen Einfluß in Berlin verfüge …. Diese Hoffnung aber räumte ihr Verteidiger rasch aus dem Sinn. Immerhin reichte er wenige Tage nach dem Urteil ein Gnadengesuch beim Reichsjustizministerium ein. Als gewichtigste Begründung gab er die Schwangerschaft seiner Mandantin an. Tatsächlich wurde eine endgültige Entscheidung bis zur Geburt des Kindes ausgesetzt, und dieses Ereignis war noch Monate entfernt.

Die Verurteilte vertrieb sich die Zeit in ihrer kargen Zelle mit Stricken. Für das zu erwartende Kind strickte sie mehrere Jäckchen, außerdem Jacken für die Wachtmeisterinnen, zu denen sie ein gewisses Zutrauen gefaßt hatte. Und immer war der Tod auch räumlich nahe: Unweit der Todeszellen befand sich der Richtraum, in dem das Fallbeilgerät stand, im Justizjargon „Richtgerät“ genannt. Allein seit ihrer Einlieferung im Juli bis zum Jahresende 1943 traten über 60 Verurteilte den letzten Gang an.

Mitte April 1944 kam im Gefängnishospital das Kind zur Welt, ein Junge, den die Brodka „Toni“ taufte. Und in die Freude über den gesunden Jungen mischte sich größte Sorge über ihr weiteres Schicksal. Der Siegeszug der Alliierten war zähflüssiger als erwartet, die Wehrmacht leistete erbittert Widerstand im Süden wie im Osten. Strafverteidiger Runge legte gleich nach der Geburt ein neues Gnadengesuch ein, in dem er angesichts der jungen Mutter, die sich so rührend um ihr Kind kümmere, um Milde bat.

Doch dann gab es gleich zwei besorgniserregende Ereignisse. Die Mutter der Verurteilten wurde Anfang Juni 1944 schriftlich aufgefordert, das Kind abzuholen, das bis dahin bei der Mutter in ihrer Zelle verblieben war. Und der Strafverteidiger wurde in der Geschäftsstelle der Staatsanwaltschaft gefragt, ob er die Kosten für die Aushändigung der Leiche übernehmen würde. Andernfalls würde die Verurteilte der Anatomie übergeben. Das war ein sicheres Zeichen, daß die Hinrichtung bevorstand! Ronge erklärte sich dazu bereit.

Die schriftliche Bestätigung erfolgte am Morgen des 5. Juni 1944. Das verhängnisvolle Telegramm besagte, daß Reichsjustizminister Thierack in seiner Ermächtigung durch den Führer und Reichskanzler von seinem Gnadenrecht keinen Gebrauch gemacht habe. Die Vollstreckung wurde für denselben Nachmittag um 15 Uhr festgesetzt.

Sofort eilte Ronge zu seiner Mandantin, um ihr die tödliche Nachricht so schonend wie möglich zu übermitteln. Das war nicht nötig, denn der Verurteilten war bereits mitgeteilt worden, daß sie in wenigen Stunden sterben müsse. Man hatte sie mittlerweile in einem kargen Raum direkt neben dem Richtraum verlegt, in dem sie zusammen mit einer polnischen Verurteilten die letzten Stunden auf Erden verbrachte. Beiden hatte man bereits die Haare im Nacken abgeschnitten. Die Polin war zusammen mit ihrem Ehemann wegen Schwarzschlachtung zum Tode verurteilt worden. Der katholische Gefängnispropst gab sich alle Mühe, den beiden Frauen Trost zu spenden.

Kurz vor 15 Uhr betraten Gefängnisbeamte den Raum und führten Marianne Brodka mit auf dem Rücken gefesselten Händen, die nackten Füße in Holzpantoffeln, in den Richtraum. Ihre Augen fielen auf einen großen schwarzen Vorhang, der den Raum zu teilen schien. Vor diesem stand neben einem länglichen Tisch ein weiterer Mann. An einem Tisch gleich hinter der Tür saßen der die Vollstreckung leitende Staatsanwalt und der Protokollführer, vor sich die schriftlichen Vollstreckungsaufträge. Neben ihnen stand der Gefängnisarzt.

Die Feststellung der Personalien und die nochmalige Verlesung des Vollstreckungsbefehls dauerten nur wenige Sekunden. Nach seinen Worten „Scharfrichter, walten Sie Ihres Amtes“ sprangen zwei Männer, die bislang rechts und links neben der Tür gestanden hatten, herbei, packten die Verurteilte an den Armen und führten sie im Eilschritt auf den Vorhang zu. Der teilte sich in diesem Augenblick und gab den Blick frei auf das Fallbeilgerät. Blitzschnell warfen die Gehilfen die Frau auf den länglichen Tisch, schoben sie nach vorn, so daß der Kopf unter dem Beil zum Liegen kam. Im selben Augenblick bediente Scharfrichter Karl Henschke* den Hebel, und schon sauste das Fallbeil herunter, trennte ihr den Kopf vom Rumpf. Er fiel in einen Aufnahmetopf aus Zink. Alles Weitere ging ebenfalls blitzschnell. Der kopflosen Leiche wurden die Fesseln abgenommen, der Rumpf wurde in eine sargähnliche Holzkiste gelegt, der blutende Kopf dazugelegt und beides in den hinter dem Vollstreckungsraum gelegenen Aufbewahrungsort verbracht. Dort dokumentierte der Arzt den Tod, dann wurde die Kiste zugenagelt. Während die Gehilfen mit einem Wasserschlauch das Fallbeil reinigten und es wieder hochzogen, begab sich der Scharfrichter zum Staatsanwalt, nahm militärische Haltung an und meldete, daß das Urteil vollstreckt sei.

Von der Vorführung der Verurteilten bis zum Abtrennen des Kopfes waren zehn Sekunden vergangen. Die reichsdeutsche Tötungsmaschinerie war höchst effizient, hatte man doch genügend Routine …. Und: Diese Prozedur wiederholte sich fast täglich ein paar Dutzend Mal im gesamten Großdeutschen Reich.

Der Vorhang wurde wieder geschlossen. Alles war bereit für das nächste Opfer. Acht waren es an diesem Nachmittag insgesamt: zwei Deutsche und sechs Polen, darunter die Schwarzschlächterin, die ihrem gleichfalls verurteilten Mann im Tod voranging. Nach einer knappen Viertelstunde war alles vorbei, sechs Menschenleben waren ausgelöscht, von denen nur eines, Marianne Brodka, sich eines Mordes schuldig gemacht hatte, die übrigen waren Kleinkriminelle.

* Henschke hatte im Januar 1944 seinen Dienst als Scharfrichter für die Oberlandesgerichtsbezirke Königsberg und Danzig aufgenommen. Im Frühjahr 1944 wurde ihm auch die neue Richtstätte in Danzig zugewiesen, die als Entlastung für den überbelegten Todestrakt in der Pregelstadt eingerichtet worden war.

Wochen später, Ende August 1944, ging Königsberg unter. Bomber der britischen Royal Air Force griffen an mehreren Tagen die alte preußische Krönungsstadt an und legten den Innenstadtbereich sowie die Hafenanlagen am Pregel weitgehend in Schutt und Asche. Auch das Fremdenheim in der Münzstraße wurde zerstört. Am 9. April 1945 ergab sich die „Festung Königsberg“ der Roten Armee. Damit begann für die verbliebene deutsche Bevölkerung eine wahre Schreckenszeit. Mord, Plünderung, Typhus und Hunger  bestimmten das weitere Leben.* Die überlebenden Deutschen wurden schließlich vertrieben. Auch der kleine Toni, der nach dem Tode bei seiner Großmutter aufwuchs, überlebte die sowjetische Besatzung nicht. Er wurde im Grab seiner enthaupteten Mutter bestattet.**

* Um diese Zeit starb auch der Großvater des Verfassers in einem Königsberger Hospital an Typhus.

** So nachzulesen in: Paul Ronge: Im Namen der Gerechtigkeit, München 1963.

Diese umfassende Leseprobe wurde von Wolfgang Krüger freigegeben. Die Kriminalchronik des Dritten Reiches – Band II (1938-1945) ist bald vergriffen (noch etwa 70 Exemplare).

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