Eine unmenschliche Wirtschafterin

Warum dachten sich die Griechen ihre Eumeniden als Weiber? Warum verbindet der deutsche Volksausdruck mit dem Wort „Drache“ den Begriff des weiblichen Elementes? Warum läßt der größte und tiefste Kenner des menschlichen Herzens unter allen Dichtern, die je gelebt haben, das schändlichste Verbrechen, kindlichen Undank und geistigen Vatermord, von zwei Weibern, den Töchtern des Lear, verüben? Warum schildert Shakespeare im Weib Macbeth eine weit schwärzere Seele, als im Manne Macbeth?

Es hat sich mir (Johann Ludwig Caspar) oft die Beobachtung aufgedrängt, versteht sich im Festhalten des allgemeinen Verhältnisses unter den Geschlechtern, wie es jede Verbrecherstatistik nachweist, daß Verbrechen, bei denen der Täter mit großer Grausamkeit verfährt, in überwiegendem Verhältnis mehr von Weibern als von Männern verübt werden. Die Verbrechergalerie, die ich hier vorführe, wird davon schon Beweise liefern, und ein auffallendes und gewiß empörendes bietet, der folgende Fall.

Am 25. Oktober 18.. mittags hörte eine Frau in der über der ihrigen gelegenen Wohnung ein sonderbares Geräusch, das sie veranlaßte, an der Tür zu horchen. Sie vernahm nun deutlich die Stimme einer Frau, welche Töne ausstiess, als ob sie sich abäschere. Sie hörte auch deutlich die Stimme eines Kindes, das in klagendem und bittendem Ton sagte: „Ach, Madame V., vergeben Sie es mir doch noch!“ Worauf eine andere Stimme erwiderte: „Ja, ich werde es dir auch schon vergeben. Du bist heute noch mein Unglück.“

Gleich darauf hörte die Zeugin einen unterdrückten Schrei, oder ein Stöhnen, und eine andere Nachbarin, die gleichfalls horchte, hörte Töne, als ob Jemand einen Gegenstand habe, mit welchem er auf etwas aufstauche. Bald darauf hörte man ganz deutlich die Worte: „Da, wasch dich!“ Und dann vernahm man wieder dasselbe Geräusch, welches wie das Wüthen eines Menschen gegen einen andern Menschen klang, und plötzlich ein sonderbares Kreischen oder auch Röcheln, welches offenbar von einem Kinde herrührte.

Diese Szene gab Veranlassung, daß Menschen in die bezeichnete Wohnung eindrangen. Man fand nun die Wirtschafterin V., die das Hauswesen eines bejahrten Beamten leitete, der ein einziges zehnjähriges Töchterchen hatte, in einem höchst aufgeregten Zustand. Das Kind Hermine aber im Todesröcheln am Boden liegend, auf dem Rücken, das Gesicht nach aufwärts gekehrt. Es lag in der Küche der Wohnung, deren Raum durch einen Schrank, einen breiten Tisch, den Herd und einen Stuhl sehr beengt war.

Die Zeugen deponierten, daß das Kind nicht etwa so da lag, als ob es hingefallen, sondern vielmehr so, als ob es von Jemand dorthin gezogen oder geschleppt worden wäre. Ein zu dem sterbenden Kind gerufener Arzt hatte aus dem blutenden Mund die abgebrochene Krone eines Backzahnes hervorgeholt. Auf dem Fußboden der Küche und des vorderen Zimmers wurden Blutflecke bemerkt, und auch an einer Kante des Küchenspindes fanden sich solche vor.

Unsere gerichtliche Obduktion der Kindesleiche hat äußerlich, außer wirklich zahllosen leichteren kleinen Hautabschilferungen, 46 größere Abschindungen und Blutunterlaufungen, über dem ganzen Körper verbreitet, ergeben. Außerdem waren noch beide Augen, Nase, Lippen, beide Ohren stark blaurot angeschwollen, und die Nates (hier der Hinterkopf) ganz mit blauen Flecken bedeckt. Als eigentliche Todesursache fanden sich zwei Blutergüsse im Gehirn, und ein drei Zoll (7,5 cm) langer Riß in der Leber, mit dem dabei gewöhnlichen starken Bluterguß in der Unterleibshöhle.

Ich habe unter vielen Hunderten von Leichenöffnungen nur noch ein einziges Mal so zahllose Spuren einer äußeren Gewalt an einer Leiche wahrgenommen. Man denke sich die gräßliche Behandlung, die das zehnjährige Kind erfahren haben mußte, wobei ich hier für in diesen Dingen weniger Erfahrene bemerken muß, daß die Leber nur zerreißt, wenn die allererheblichsten Gewalttätigkeiten den Unterleib des Menschen treffen, z. B. beim Überfahren, bei heftigen Fußtritten auf den Bauch usw.!

Die Wirtschafterin, niemand außer ihr war bei dem Kind gewesen, leugnete. Das Kind sei aus der Schule gekommen, sie hätte ihm auf dem Strohhut, mit dem es bekleidet war, eine Ohrfeige gegeben (daß dieser nicht im Geringsten zerknickt war, irrte sie nicht). Es hätte sich darauf zu Boden geworfen, sie habe es aufgehoben, und dabei bemerkt, daß es blute. Das Kind habe sich darauf von ihr losgerissen, sei zur Vorderstube gelaufen, wo es sich abermals zur Erde warf. Sie habe es wiederum aufgehoben, zur Küche gebracht, um ihm das Blut abzuwaschen, und als es sich weigerte, habe sie ihm abermals eine Ohrfeige gegeben. Sodann habe es sich zum dritten Mal niedergeworfen, und da sie überzeugt gewesen sei, daß das Kind dies alles nur aus Verstellung tue, habe sie ihm das zum Waschen bestimmt gewesene Wasser über den Kopf ausgegossen, womit sie den Umstand erklärte, daß die Kleider an dem sterbenden Kind durchnäßt gefunden worden waren.

Alle Vorhaltungen, alle zahlreichen Gegenbeweise, die behorchten Töne und Reden, der Befund der zahllosen Verletzungen an der Leiche, der Riß der Leber und seine, ihr klar gemachte Bedeutung, die Blutspuren in der Wohnung, die durch den Sachverständigenspruch erwiesene Unmöglichkeit, daß das Kind auf die von ihr angegebene Weise habe sterben können – nichts war im Stande, die unerschütterlich Leugnende zu bekehren!

Ein solches Benehmen gibt für sich schon ein Bild dieser Megäre. Frechheit und Kälte waren ihre charakteristischen Eigenschaften. Ein behäbiges, feistes Weib von vierzig und einigen Jahren, mit breiten Hüften, saß sie auf der Anklagebank mit der Ruhe einer an der Verhandlung unbeteiligten Zuhörerin, und man sah ihr wohl an, daß die Überzeugung sie aufrecht hielt: „Was wollen sie dir tun? Zeugen waren nicht zugegen.“

Ihre Gesichtszüge hatten nichts Widerwärtiges, nur der Mund war häßlich breit, die Sprache eines Berliner ungebildeten Weibes, der Ton ihrer Stimme fest und unweiblich, ihre antworten oft bis zum Ekel trotzig und frech. Bei alledem würde indes gewiß Niemand von vornherein dieses Weib, die tausend anderen gleicht, einer so niederträchtigen Handlung und eines solchen wütiggrausamen Benehmens gegen ein zehnjähriges Kind für fähig gehalten haben.

Sie wurde, da der Richter damals noch an die strenge Beweistheorie gebunden war, nur zu einer zwanzigjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. (Nach Johann Ludwig Caspar)

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